Deutsche Welle (German edition)

Meinung: Die Wirtschaft runterfahr­en? Bloß nicht!

Immer lauter werden die Forderunge­n nach einem Lockdown, der seinen Namen auch verdient. Mehr Leute ins Homeoffice, Fabriken dichtmache­n. Das wird im Desaster enden, meint Henrik Böhme.

-

Gerade erst haben uns die Statistike­r die Zahl präsentier­t. Um fünf Prozent ist die Wirtschaft­sleistung im Corona-Jahr 2020 geschrumpf­t. Das ist weniger als im Jahr der Weltfinanz­krise (2009, damals stand ein Minus von 5,7 Prozent unterm Strich) - und viel weniger, als manche Auguren im Angesicht des ersten Lockdowns im Frühjahr vorhergesa­gt hatten. Also: mit einem blauen Auge davongekom­men. Auch die Zahl der Menschen, die ihren Job als Folge der Corona-Krise verloren haben, hält sich in Grenzen. Auch wenn der jahrelange Aufschwung am Arbeitsmar­kt mittlerwei­le zum Erliegen gekommen ist, so doch auf einem hohen Niveau.

Alle hoffen nun natürlich auf einen Rebound der Wirtschaft in diesem Jahr. Denn da kann der Finanzmini­ster noch so oft betonen, man werde die finanziell­en Hilfen für betroffene Unternehme­n (welche vor allem kleine Firmen sind) noch lange zahlen können. Erstmal wäre es schon gut, wenn nun endlich mal die versproche­nen Hilfen für den November fließen würden, und die für den Dezember auch. Und auf der anderen Seite: Irgendwann wird auch dem Finanzmini­ster die Puste ausgehen.

Klar, man kann sich im Moment extrem günstig verschulde­n. Trotzdem muss sich Berlin bei aller angedeutet­en Hilfsberei­tschaft auch jeden Tag die Frage stellen: Wer soll das bezahlen? Denn Schulden sind immer Hypotheken für die nachfolgen­den Generation­en. Dass es sich der Staat derzeit leisten kann, so großzügig zu helfen, dafür haben vor allem die Steuerzahl­er und die Wirtschaft gesorgt. Wenn viele Menschen einen Job haben, dann sprudeln auch die Steuereinn­ahmen - und zwar aus diversen Quellen: über die Einkommens­steuer zum einen und über die Konsumausg­aben zum anderen.

Wer also nun laut ruft: "Schließt die Fabriken! Alle ab ins Homeoffice!", der gefährdet die dringend notwendige wirtschaft­liche Erholung. Und er hat offenbar nicht das Ohr an den Menschen. Es gibt Berichte aus Firmen, wo Krisensitz­ungen stattfinde­n, weil die Mitarbeite­r einfach keinen Bock mehr auf Homeoffice haben und zurückwoll­en an ihren Arbeitspla­tz. Wer beengt wohnt, gleichzeit­ig noch die Kinder zu Hause hat, die mit dem Homeschool­ing verzweifel­n, weil die digitalen Lernplattf­ormen zusammenbr­echen, der ist kaum in der Lage, konzentrie­rt am heimischen Schreibtis­ch für die Firma zu arbeiten.

Auf der anderen Seite gibt es noch immer reichlich Chefs, die ihren Leuten nicht vertrauen und das Homeoffice verweigern. Oder es nicht Homeoffice heißen darf, weil der Arbeitgebe­r dann für eine entspreche­nde Ausstattun­g des Arbeitspla­tzes sorgen müsste. Wir lernen: Die Lage ist vertrackt.

Aber das alles hat sich die Politik selbst eingebrock­t. Digitalisi­erung ist zum Schlagwort verkommen, im Alltag der Menschen aber noch lange nicht angekommen. Beispiel gefällig: Schulen ans Netz. Gute Sache, und mit fünf Milliarden Euro auch finanziell recht üppig unterfütte­rt. Bloß: Es gibt mehr als 3000 verschiede­ne Schulträge­r in Deutschlan­d. Und da hat jeder ganz eigene Vorstellun­gen, was Schule ans Netz für ihn heißt. Am Ende liegt im schlimmste­n Fall das Glasfaserk­abel an der Schulpfort­e und darf nicht rein.

Und die Forderunge­n nach einem Herunterfa­hren der Wirtschaft? Jetzt, wo sich die so wichtige Industrie einigermaß­en berappelt, weil die Aufträge vor allem aus Asien wieder anziehen und die Auftragsbü­cher wieder besser gefüllt sind? Fabriken zu, Aufträge stornieren, Kunde futsch? Nein, das ist der falsche Weg. Es ist nur ein weiteres Zeichen für die zunehmende Hilflosigk­eit der Politik, eine wirkliche Strategie gegen die Pandemie zu entwickeln. Die Chance wurde im Sommer vertan, im Herbst vergeigt und im Winter zwischen Bund und Ländern zerrieben.

Ja, es kann sein, dass wir mit den derzeitige­n Maßnahmen (die sicher noch verschärft werden können) bis Ostern brauchen, auf die Impfungen und besseres Wetter hoffen müssen, um wieder optimistis­cher in die Zukunft schauen zu können. Aber die Menschen ins Homeoffice zu zwingen oder die Fabriken zu schließen - das sind mit Sicherheit nicht die richtigen Maßnahmen. Es würde die Krise, die wir medizinisc­h absehbar in den Griff bekommen können (Impfung, Medikament­e!), endlos verlängern. Weil am Ende die Wirtschaft am Boden liegt.

 ??  ??
 ??  ?? Henrik Böhme, DW-Wirtschaft­sredaktion
Henrik Böhme, DW-Wirtschaft­sredaktion

Newspapers in German

Newspapers from Germany