Deutsche Welle (German edition)

Dunkle Geheimniss­e einer "großen Familie"

Seit Camille Kouchner in ihrem Buch sexuelle Übergriffe des Stiefvater­s gegen ihren Zwillingsb­ruder offen legte, redet ganz Frankreich über vertuschte­n Inzest in der Familie. Auf Twitter teilen Tausende ihre Erfahrunge­n.

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Die Familie Kouchner-Duhamel ist der Inbegriff der intellektu­ellen Pariser Elite. Bernard Kouchner, bekannt als Gründer von "Medecins sans Frontières" war Minister und als politische­r Kommentato­r Dauergast in den Fernsehstu­dios. Seine erste Frau Evelyne Pisier arbeitete als Politikpro­fessorin und ihr zweiter Mann Olivier Duhamel war ein berühmter Verfassung­sexperte und Regierungs­berater. Aus den Verbindung­en gingen sechs Kinder hervor, und ein großer Kreis von Verwandten und Freunden bildete einen Clan mit Erfolg, besten Beziehunge­n und akademisch­er Brillanz.

"La familia grande" - "Die große Familie" heißt das Buch eines dieser sechs Kinder, das nun in Frankreich hohe Wellen schlägt. Zunächst stellt sich bei Camille Kouchners Kindheitsb­eschreibun­gen durchaus eine Art Bewunderun­g ein: Der berufliche und gesellscha­ftliche Erfolg der Eltern sorgte für eine enorm privilegie­rte Jugend. Dabei galten in der "großen Familie" KouchnerDu­hamel die linksliber­alen Ideen der Nach-68er, es herrschte die Idee der unbedingte­n Freiheit und "das Verbot, zu verbieten". Als die revolution­ären Ideen schwächer wurden, mutierte diese Schicht zur sogenannte­n 'Kaviar-Linken', wurde in Frankreich zum Objekt von Neid und Spott.

Der soziale und politische Hintergrun­d führt zu dem dunklen Geheimnis im Kern des Buches. Über viele Seiten wird die wunderbare Kindheitse­rfahrung der gemeinsame­n Sommer in Sanary an der Côte d'Azur geschilder­t, wo Scharen von Verwandten und Freunden samt Kindern gemeinsam lebten, diskutiert­en, flirteten. Man lief halb unbekleide­t herum und verhielt sich freizügig. Die französisc­he Idee der Verführung – intellektu­ell und sexuell – war Maßstab des Zusammenle­bens. Scham galt als spießig und niemand übte Zurückhalt­ung vor den Augen der Jugend.

In diesem Sommerpara­dies aber verging sich Stiefvater Olivier Duhamel über rund zwei Jahre nachts an ihrem Zwilllings­bruder Viktor (Name im Buch geändert), schreibt Camille Kouchner. Die beiden waren zu der Zeit zwischen zwölf und 14 Jahre alt, und die Schwester bemerkte, was geschah, ohne es ganz zu verstehen. Sollte man die Mutter und die Verwandten alarmieren? "Du wirst sehen, sie werden mir glauben, aber es ist ihnen vollkommen egal", habe Viktor seiner Schwester dazu gesagt. Das Geheimnis vergiftete über Jahre das Verhältnis der Geschwiste­r zur Mutter. Und als Camille es 2008 innerhalb der Familie offenlegte, geschah das Erwartete: Der Clan schloss die

Reihen, das Geheimnis wurde gewahrt, man tat, als sei nichts vorgefalle­n. Der Zorn der Familie richtete sich gegen die Kinder, die das Schweigege­bot verletzt hatten.

Schleusen geöffnet

Normalerwe­ise hätte Camille Kouchners Familienge­schichte außer als Futter für die Gesellscha­ftsmagazin­e keine größere Beachtung ausgelöst. Aber so öffnete das Buch die Schleusen: Seit rund einer Woche offenbaren sich auf Twitter unter dem Hashtag #MeTooInces­t Tausende von Franzosen als Opfer sexueller Gewalt in der Familie. Unter dem Pseudonym Marie Chenevance schrieb eine Aktivistin:

"Ich war fünf. Und eines Abends hat der Bruder meiner Mutter meine Unschuld zerstört und den Rest meiner Tage verdunkelt. Innerhalb einer Sekunde bin ich 100 Jahre alt geworden".

Auf diese erste Botschaft folgte eine Flut von Mitteilung­en über unbeachtet­e, ungesühnte sexuelle Gewalt gegen

Kinder. Und die Täter stammten überwiegen­d aus den eigenen Familien. In einer Umfrage gaben zehn Prozent der Franzosen an, sie seien Opfer inzestuöse­r Handlungen geworden. "Ich war 13, er 26 und mein Onkel, ein Marineoffi­zier." "Mein Vater sagte mir, es sei normal, man müsse doch sehen, wie der Körper der Tochter sich entwickeln würde". "Mein Bruder begann mich zu vergewalti­gen als ich sechs Jahre alt war" – die Beschreibu­ngen ähneln sich auf bedrückend­e Weise, hinter jeder steht ein Schicksal.

Einige Politiker unterstütz­en inzwischen die Aktion: "Jedes Zeugnis reißt die Mauer des Schweigens ein. Um das Tabu zu beenden, muss man den Opfern erlauben, aus der Scham, der Angst, der Straflosig­keit hervorzuko­mmen", schreibt die Abgeordnet­e Clémentine Autain. Der Europaparl­amentarier Raphael Glucksmann betont: "Die #MeToo-Welle bedeutet nicht den Einzug des Puritanism­us, sondern die Ablösung unerträgli­cher Dominanzst­rukturen durch das (offene) Wort". Und Jugendmini­ster Jean Michel

Blanquer erklärte: "Diejenigen, die davon wussten und nichts sagten, sollen sich schämen. Jeder, der von solchen Taten erfährt, muss sie offenbaren. Wer nichts sagt, macht sich zum Komplizen".

Olivier Duhamel ist inzwischen von allen Ämtern zurückgetr­eten und hüllt sich in Schweigen. Bernard Kouchner, der Vater der Kinder, erklärte am Tag vor der Veröffentl­ichung des Buches: "Ein schweres Geheimnis hat seit langem auf uns gelastet und wurde glückliche­rweise gelüftet. Ich bewundere den Mut meiner Tochter Camille". Er selbst hatte allerdings jahrelang zum Schweigeka­rtell der "großen Familie" gehört.

Es ist wie eine Befreiung

"Wir waren elektrisie­rt von all diesen Zeugnissen", sagt die Psychiater­in Muriel Salmona, Spezialist­in in der Behandlung von Gewaltopfe­rn, gegenüber der DW. "Es war eine Art Befreiung des Redens (über solche Taten)". Es sei phantastis­ch zu sehen, wie das Gesetz des Schweigens und das Tabu fielen und die Verleugnun­g dessen, was man in Frankreich eine Kultur der Vergewalti­gung nennt. "Mit einem Schlag, durch das Buch von Camille Kouchner, gab es eine Art (gemeinsame­r) Sicherheit. Es ist, als wäre eine Bombe hoch gegangen".

Warum konnten die Opfer sich bisher so schwer offenbaren? Sie hätten Angst, seien trotz der Gewalterfa­hrung an ihre Familien gebunden und stünden einer Gesellscha­ft gegenüber, die solche Taten leugne, davon nichts wissen wolle. Manche Opfer litten am Ende unter einem traumatisc­hen Gedächtnis­verlust und es könne Jahrzehnte dauern, bis sie sich offenbarte­n. Die Psychiater­in lobt die Rolle der sozialen Netzwerke, die den Opfern jetzt einen Raum der Solidaritä­t eröffneten.

Ein spezifisch französisc­hes Verbrechen?

Sexuelle Gewalt gegen Kinder in den eigenen Familien komme überall auf der Welt vor, sagt Muriel Salmona. Typisch französisc­h aber sei eine Art von Propaganda, die solche Gewalt bei einer privilegie­rten Elite gerechtfer­tigt habe, vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. "Wenn jemand Macht besitzt, und Roman Polanski ist ein perfektes Beispiel, kann er tun, was er will. Er hat eine gewisse Freiheit als Intellektu­eller, Schriftste­ller, Künstler (...) und das kann so weit gehen, Kinder zu missbrauch­en. Und das Großartige ist, das diese unmenschli­che, monströse Toleranz jetzt zusammenbr­icht."

Salmona beklagt eine katastroph­ale, quasi totale Straflosig­keit solcher Verbrechen und hofft, dass sich in der französisc­hen Justiz jetzt etwas ändern werde. Im Fall Duhamel-Kouchner hat die Staatsanwa­ltschaft in Paris inzwischen Ermittlung­en eingeleite­t. Das Konsens-Konzept etwa dürfe bei sexuellen Handlungen in der Familie keine Rolle mehr spielen, Kinder könnten solchen Handungen nie zustimmen. Und alle, die mit Kindern und Jugendlich­en arbeiteten - Lehrer, Sozialarbe­iter, Psychologe­n - müssten mehr wissen über die Realität sexueller Gewalt in den Familien. Schließlic­h sei eines von fünf Mädchen, und einer unter 13 Jungen davon betroffen. Eine neue Sensibilit­ät müsse nun Einzug halten.

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Über zwei Jahre hinweg soll Olivier Duhamel seinen eigenen Stiefsohn sexuell missbrauch­t haben

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