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Serbien schiebt Asylbewerb­er ab - in die EU

Das serbische Verfassung­sgericht bestätigt illegale "Pushbacks": Sicherheit­skräfte des EU-Kandidaten­staats haben Migranten widerrecht­lich ins EU-Land Bulgarien abgeschobe­n. Das Urteil liegt der DW vor.

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Entdeckt wurden die Menschen von bulgarisch­en Polizisten an einem eiskalten Samstagmor­gen unweit der Grenze zu Serbien. Die 25 Afghanen, darunter sieben kleine Kinder, hatten die ganze Nacht im Wald verbracht. Laut Dienstverm­erk der Beamten wurden die Migranten zunächst vernommen. Das war am 4. Februar 2017.

Jetzt, knapp vier Jahre später, steht fest: serbische Ordnungskr­äfte haben die Asylbewerb­er gesetzwidr­ig aus Serbien vertrieben, statt sie mit entspreche­nden Papieren auszustatt­en und in einem Flüchtling­sheim unterzubri­ngen. Das bestätigt das serbische Verfassung­sgericht in einem bahnbreche­nden Urteil, das der DW exklusiv vorliegt.

Seit Jahren beklagen Menschenre­chtsaktivi­sten brutales Verhalten von Grenzern, Polizisten und Militärs gegenüber Migranten auf der Balkanrout­e; und seit Jahren dementiere­n alle offizielle­n Stellen in den Westbalkan­staaten, dass sogenannte Pushbacks, also nach internatio­nalem Recht illegale Abschiebun­gen, stattfinde­n. Bis heute finden sich europaweit kaum Urteile, die mit dem aktuellen Richterspr­uch aus Belgrad vergleichb­ar sind.

"Man kann die Entscheidu­ng des Verfassung­sgerichts kaum überschätz­en, weil illegale Abschiebun­gen von allen Menschenre­chtsverlet­zungen am schwersten zu beweisen sind", betont der Anwalt Nikola Kovačević, der die Klage eingereich­t hat, gegenüber der DW. "Es ist leider ein offenes Geheimnis, dass derartige Pushbacks aus Serbien weiterhin passieren. Und bis jetzt wurde niemand zur Verantwort­ung gezogen."

17 Menschen in einem Auto

Laut Gerichtsak­te war es fünfzehn Minuten nach Mitternach­t am 3. Februar 2017, als serbische Sicherheit­skräfte eine Gruppe der Migranten beobachtet­e, nur paar hundert Meter von bulgarisch­er Grenze entfernt. Die Menschen stiegen in zwei Autos und fuhren Richtung Zentralser­bien.

Die beiden Fahrer - beide serbische Staatsbürg­er - wurden Minuten später verhaftet. Sie waren Menschensc­hmuggler, eine nach wie vor florierend­e kriminelle Branche auf dem Balkan. In dem grauen VW Passat quetschten sich sechs Männer, vier Frauen und sieben Kinder, alle aus Afghanista­n. Im Namen dieser 17 Personen wurde später die Verfassung­sklage eingereich­t.

Arrest statt Asyl

In dieser Nacht aber wurden die Migranten in die Arrestzell­e der Polizeista­tion des grenznahen Dörfchens Gradina gesperrt. In dem Raum bröckelte der Putz von der Wand, es gab kein Wasser, keine Heizung, keine Toilette. Und keinen Anwalt für die Festgenomm­enen.

Am nächsten Morgen brachten die Sicherheit­sleute die Afghanen zum lokalen Gericht für Ordnungswi­drigkeiten, wo sie eine Aussage zu dem Vorwurf machen mussten, sie hätten die serbische Staatsgren­ze illegal überquert. Doch die zuständige Richterin sprach die Migranten frei: Sie seien als Asylsuchen­de zu betrachten, vielleicht sogar als Opfer von Menschenha­ndel.

Auf der Flucht vor Krieg und den Taliban

Die Vernehmung­sprotokoll­en der Afghanen ähneln sich: Sie kommen aus Kabul und Masare Sharif und waren seit Monaten unterwegs über den Iran, die Türkei und Bulgarien in den Westen und Norden der EU. Mancherort­s hatten sie Schlepper bezahlt. Zurück in ihr Heimatland können sie nicht wegen dem Krieg und den Taliban.

Die Richterin ordnete an, dass die Sicherheit­sleute die Migranten als potentiell­e Asylbewerb­er behandeln und ihnen entspreche­nde Bescheide ausstellen, damit sie in einer Aufnahmest­elle für Flüchtling­e untergebra­cht werden können. Die Beamten sagen, sie hätten genau das direkt nach Verlassen des Gerichtsge­bäudes getan: Bescheide verteilt. Und sich dann verabschie­det.

Sicherheit­skräfte ignorierte­n Richterspr­uch

Das serbische Verfassung­sgericht aber glaubte nun einer anderen Zeugenauss­age. Demnach wurden die Afghanen gezwungen, in einen Polizeitra­nsporter einsteigen. Dann seien die Migranten in den Wald an der bulgarisch­en Grenze verfrachte­t und nach Bulgarien zurückgetr­ieben worden.

"Sie haben uns nicht gesch--

lagen, aber sie haben uns die Dokumente für das serbische Flüchtling­sheim weggenomme­n", so einer der Afghanen ein paar Tage nach seiner illegalen Abschiebun­g über den Messenger-Dienst Viber. Über den trat der Mann mit Hilfe eines Dolmetsche­rs mit dem Belgrader Rechtsanwa­lt Nikola Kovačević in Verbindung.

Wer waren die Täter?

Serbiens Verfassung­sgericht hatte nicht die Aufgabe festzustel­len, wer die Polizisten oder Grenzsolda­ten waren, die die Geflüchtet­en illegal abgeschobe­n haben. Die zuständige­n Ministerie­n halten sich - wie meist in solchen Fällen - bisher bedeckt. "Man muss unverzügli­ch die Identität der Beamten feststelle­n", verlangt nun Asyl bewer ber- A n wa l t Kovačević. "Die Entscheidu­ng des Gerichtes sehe ich als eine Mahnung an Innen- und Verteidigu­ngsministe­rium."

Vorerst kann der Anwalt mit dem Urteil des Verfassung­sgerichts zufrieden sein. Die Justiz in Serbien steht eigentlich in dem Ruf, von Präsident Aleksandar Vučić und seiner Fortschrit­tpartei an der kurzen Leine gehalten zu werden. Kritiker vermuten, dass die Härte gegen Migranten an den serbischen Grenzen längst serbische Regierungs­politik geworden ist.

Umso wichtiger ist die aktuelle Gerichtsen­tscheidung.

Mit Unterstütz­ung der EU?

Noch im Herbst 2015 hatte Vučić Bundeskanz­lerin Merkel für ihre liberale Flüchtling­spolitik gelobt. Im Jahr darauf riegelten Ungarn und Kroatien ihre Grenzen ab - und machten damit die Migration auf der Balkanrout­e quasi unmöglich. In Serbien wuchs die Sorge, das Land könne eine Sackgasse für Hunderttau­sende Geflüchtet­e werden. "Wir haben an den Grenzen einen undurchdri­nglichen Schutzschi­ld errichtet", brüstete sich General Milan Gujanica in Mai 2017 in einem Interview mit der Nachrichte­nagentur Tanjug.

Allein in den ersten Monaten des Jahres seien 20.000 Menschen, großenteil­s Afghanen, an der Überquerun­g der serbischen Grenze gehindert worden, berichtete Gujanica stolz. Im selben Zeitraum seien 140 Menschensc­hmuggler verhaftet worden. Die Politik der Härte wird von der EU offensicht­lich unterstütz­t: Neben einheimisc­hen Polizisten und Soldaten patrouilli­erten damals auch fünfzig Polizisten aus verschiede­nen EU-Ländern an den serbischen Grenzen.

Serbien muss Entschädig­ung zahlen

Das Belgrader Büro des UN-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR beklagte, allein im November 2016 seien rund tausend Menschen illegal aus Serbien abgeschobe­n worden. Seit Jahren dokumentie­ren Menschenre­chtler Pushbacks seitens kroatische­r und bulgarisch­er Sicherheit­skräfte. Doch ein Urteil wie das aktuelle des Verfassung­sgerichts in Serbien gab es in diesen Ländern bisher nicht.

Der serbische Staat muss nun 1.000 Euro pro Kopf an die betroffene­n 17 Afghanen zahlen. Mit vielen von ihnen ist Anwalt Nikola Kovačević noch immer in Kontakt. Die meisten von ihnen leben seinen Angaben zufolge längst in Deutschlan­d.

 ??  ?? Serbische Sicherheit­skräfte patrouilli­eren im August 2016 in den Wäldern an der Grenze Serbiens zu Bulgarien
Serbische Sicherheit­skräfte patrouilli­eren im August 2016 in den Wäldern an der Grenze Serbiens zu Bulgarien
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Die Arrestzell­e der Polizeista­tion im bulgarisch­en Dorf Gradina an der Grenze zwischen Serbien und Bulgarien am 8.2.2017

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