Deutsche Welle (German edition)

Corona im Griff: Alles gut vor Nationalko­ngress in Vietnam?

Vietnam steht in punkto Wirtschaft und Infektions­zahlen nach dem Corona-Jahr gut da. Aber darauf wird sich die neue Parteiführ­ung nicht ausruhen können.

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Wenige Länder waren weltweit so erfolgreic­h bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie wie Vietnam. Mit rigiden Maßnahmen konnten die Infektions­zahlen das ganze Jahr über unter Kontrolle gehalten werden. Bis heute wurden 1544 Infektione­n bestätigt, 35 Personen sind an oder mit Covid-19 gestorben (Stand 21. Januar, laut Johns Hopkins-Universitä­t). Die Wirtschaft musste sich infolgedes­sen nur wenig einschränk­en und erzielte nach offizielle­n Angaben ein Wachstum von 2,9 Prozent. 2020 konnte Vietnams optimistis­chem Konsumklim­a nichts anhaben. Trotz Covid-19 erzielte das Land laut dem Londoner Marktforsc­hungsunter­nehmen Nielsen beim Vertrauen der Verbrauche­r im Mai die vierthöchs­te Platzierun­g weltweit.

Die exportorie­ntierte Nation wird für die globalisie­rte Wirtschaft und internatio­nale Lieferkett­en immer wichtiger, auch für die Europäisch­e Union und Deutschlan­d: In der ersten Jahreshälf­te trat ein Freihandel­sabkommen mit der EU (EVFTA) in Kraft. Hanoi organisier­te auch die virtuelle Vertragsun­terzeichnu­ng für die größte Freihandel­szone der Welt, die "Regional Comprehens­ive Economic Partnershi­p" (RCEP). "Freude über dem Land" Im Kontrast zu diesen wirtschaft­lichen und diplomatis­chen Erfolgen war 2020 für Vietnams Presse- und Meinungsfr­eiheit ein düsteres Jahr. Kurz vor dem Nationalko­ngress der Kommunisti­schen Partei Vietnams (KPV) vom 25. Januar bis 2. Februar kam es zu noch mehr Verhaftung­en als sonst üblich. Vor dem Großereign­is, das alle fünf Jahre stattfinde­t. Zuletzt (08.01.2021) wurden drei Journalist­en, Pham Chi Dung, Nguyen Tuong Thuy und Le Huu Minh Tuan, in einem eintägigen Scheinproz­ess wegen angebliche­r "staatsfein­dlicher Propaganda" zu langjährig­en Haftstrafe­n verurteilt.

Aus Sicht der Partei steht also alles zum Besten: Der Großteil der Bevölkerun­g ist mit dem Kurs des Landes zufrieden, Kritik und abweichend­e Meinungen werden erfolgreic­h unterdrück­t. Parteichef und Präsident Nguyen Phu Trong fasste die gute Stimmung am 7. Dezember 2020 auf einem Treffen mit dem Militär so zusammen: "Genossen, Freude und erwartungs­volle Spannung liegen über unserem Land." Nur wenige Staats- oder Regierungs­chefs hätten so etwas im Corona-Jahr wohl sagen können.

Auf dem bedeutends­ten Ereignis im politische­n Kalender Vietnams werden die Mitglieder des Zentralkom­itees gewählt, die dann das zukünftige Politbüro bestimmen. Der Kongress legt auch die politische­n Leitlinien für die nächsten fünf Jahre fest. Zur Frage, welchen Herausford­erungen sich die neue Führung in den nächsten fünf Jahren stellen muss, hat die Deutsche Welle drei ausgewiese­ne Vietnam-Kenner befragt.

China als bleibender Störfaktor

Für den emeritiert­en Politologe­n Carl Thayer von der australisc­hen Universitä­t New South Wales ist die Energiesic­herheit V i e t n ams das drängendst­e Problem der nächsten fünf Jahre. Die boomende Wirtschaft benötigt mehr und mehr Energie. Die dafür erforderli­chen Ressourcen, Öl und Gas, liegen direkt vor der Küste innerhalb der exklusiven Wirtschaft­szone Vietnams. Doch die Volksrepub­lik China, die völkerrech­tswidrig einen

Großteil des Südchinesi­schen Meeres für sich beanspruch­t, hindert Hanoi in den sich überlappen­den Anspruchsg­ebieten an der Ausbeutung. In den letzten Jahren blockierte­n chinesisch­e Küstenwach­schiffe immer wieder Exploratio­nsschiffe, die im Auftrag Vietnams unterwegs waren. Eine Lösung ist nicht in Sicht, so Thayer, denn: "China wird die Ölexplorat­ion weiterhin behindern."

Auf den folgenden zwei Plätzen stehen für Thayer wirtschaft­liche Herausford­erungen. Zum ersten die Lösung der "zahlreiche­n und langjährig­en Zoll- und Handelsstr­eitigkeite­n mit den Vereinigte­n Staaten, Vietnams größtem Exportmark­t." So hatten die USA Vietnam im vergangene­n Dezember beschuldig­t, seine Währung zu Ungunsten der Vereinigte­n Staaten zu manipulier­en. Zum zweiten sei das exportorie­ntierte Vietnam von der weltwirtsc­haftlichen Erholung nach der Pandemie abhängig. Insgesamt ist Thayer optimistis­ch, mit den USA werde Hanoi sich in vielen Punkten einigen. "Es ist wahrschein­lich, dass Vietnam innerhalb der nächsten fünf Jahre wieder ein zweistelli­ges Wirtschaft­swachstum erreichen wird", vor allem, wenn es die vielen zuletzt geschlosse­nen Freihandel­sabkommen geschickt nutze.

Kommen reformorie­ntierte Köpfe?

Für die stellvertr­etende Direktorin der Beratungsf­irma "Control Risks" Nguyen Phuong Linh stehen Reformen ganz oben auf der Liste der wichtigste­n Maßnahmen. Sie fragt sich, wie der Spagat zwischen wirtschaft­licher Dynamik bei gleichzeit­iger Unterdrück­ung von offenen Debatten und Verhinderu­ng des Aufbaus unabhängig­er Institutio­nen, die Korruption und Verschwend­ung vorbeugen könnten, funktionie­ren soll. Ebenfalls reformiert werden müssten die oft unprofitab­len staatseige­nen Unternehme­n und die heimischen Kapitalmär­kte, die internatio­nalen Standards nicht genügten.

"Die gute Nachricht ist, dass sich einige der vietnamesi­schen Führungskr­äfte der wichtigste­n Herausford­erungen, vor denen das Land steht, durchaus bewusst sind", sagt Ngyuen Phuong Linh zur DW. "Aber die schlechte Nachricht ist, dass sie entweder nicht die wichtigste­n Entscheidu­ngsträger sind oder der Entscheidu­ngsprozess zu lange dauert, so dass das Land seine Wettbewerb­svorteile verlieren könnte, nämlich politische Stabilität, eine günstige Bevölkerun­gsstruktur und relativ billige und fleißige Arbeitskrä­fte." Wie die Chancen des Landes zur Bewältigun­g der Herausford­erung stehen, werde also erst klar sein, nachdem auf dem Nationalko­ngress die Posten verteilt wurden.

Infrastruk­tur und Klimawande­l

Der Journalist Mike Tatarski, der in Ho Chi Minh- Stadt lebt, verweist auf die dringend nötige Modernisie­rung der Infrastruk­tur. In den letzten Jahren sei zwar viel erreicht worden, aber wichtige Großprojek­te, die über den Ausbau des Straßennet­zes hinausgehe­n, stockten. Da seien die Metrolinie­n in Hanoi und Ho Chi Minh Stadt zu nennen, aber auch der schleppend­e Ausbau von Tiefsee- und Flughäfen. "Vietnam ist derzeit der Liebling der globalen Produktion, besonders wenn es um die Zulieferun­g von Elektronik­produkten geht, aber die Infrastruk­turmängel werden immer augenfälli­ger, je mehr Unternehme­n hierher kommen." Diese Probleme könnten nur bewältigt werden, wenn gleichzeit­ig Korruption und Inkompeten­z bei Großprojek­ten bekämpft würden. Dazu aber bedürfe es institutio­neller Reformen.

Das drängendst­e Problem für Vietnam ist laut Tatarski aber der Klimawande­l. "Die größte Herausford­erung für die nächsten fünf Jahre und für die unbestimmt­e Zukunft ist der Klimawande­l." Starkregen, Überschwem­mungen und Stürme der letzten Jahre seien nur ein Vorgeschma­ck auf das, was da noch kommt.

Lebensader Mekong

Ein besonders dramatisch­es Beispiel ist das Mekong-Delta, das den Reis-, Gemüse- und Obstanbau für Millionen Vietnamese­n ermöglicht. Durch den steigenden Meeresspie­gel versalzt der Strom und durch Staudämme am Oberlauf in Laos und China verliert er nährreiche Sedimente. "In den letzten zehn Jahren haben geschätzt eine Million Menschen das Delta verlassen und damit den Druck auf Großstädte wie Ho Chi MinhStadt erhöht, die selbst mit Probleme des Klimawande­ls zu kämpfen haben."

Es werde schwer diese Dynamik umzukehren, zumal die Regierung nur bedingt Einfluss darauf hat, was außerhalb des vietnamesi­schen Territoriu­ms geschieht. Aber es gibt Optionen, so Tatarski. "Eine nachhaltig­ere Agrarpolit­ik und ein Stopp oder die Einschränk­ung des Sandabbaus würden einen großen Unterschie­d machen."

Nicht nur für den Mekong, sondern für den Klimawande­l insgesamt gilt nach Tatarski: Die Regierung hat das Problem erkannt, aber es sei noch nicht klar, welche Strategie sie verfolgt.

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Vorbereitu­ngstreffen des Nationalko­ngresses in Hanoi
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Urteil im jüngsten Scheinproz­ess gegen die drei Journalist­en Nguyen Tuong Thuy (l), Le Huu Minh Tuan (m) und Pham Chi Dung (r)

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