Deutsche Welle (German edition)
Dunkle Geheimnisse einer "großen Familie"
Seit Camille Kouchner in ihrem Buch sexuelle Übergriffe des Stiefvaters gegen ihren Zwillingsbruder offen legte, redet ganz Frankreich über vertuschten Inzest in der Familie. Auf Twitter teilen Tausende ihre Erfahrungen.
Die Familie Kouchner-Duhamel ist der Inbegriff der intellektuellen Pariser Elite. Bernard Kouchner, bekannt als Gründer von "Medecins sans Frontières" war Minister und als politischer Kommentator Dauergast in den Fernsehstudios. Seine erste Frau Evelyne Pisier arbeitete als Politikprofessorin und ihr zweiter Mann Olivier Duhamel war ein berühmter Verfassungsexperte und Regierungsberater. Aus den Verbindungen gingen sechs Kinder hervor, und ein großer Kreis von Verwandten und Freunden bildete einen Clan mit Erfolg, besten Beziehungen und akademischer Brillanz.
Hintergrund führt zu dem dunklen Geheimnis im Kern des Buches. Über viele Seiten wird die wunderbare Kindheitserfahrung der gemeinsamen Sommer in Sanary an der Côte d'Azur geschildert, wo Scharen von Verwandten und Freunden samt Kindern gemeinsam lebten, diskutierten, flirteten. Man lief halb unbekleidet herum und verhielt sich freizügig. Die französische Idee der Verführung – intellektuell und sexuell – war Maßstab des Zusammenlebens. Scham galt als spießig und niemand übte Zurückhaltung vor den Augen der Jugend.
In diesem Sommerparadies aber verging sich Stiefvater Olivier Duhamel über rund zwei Jahre nachts an ihrem Zwilllingsbruder Viktor (Name im Buch geändert), schreibt Camille Kouchner. Die beiden waren zu der Zeit zwischen zwölf und 14 Jahre alt, und die Schwester bemerkte, was geschah, ohne es ganz zu verstehen. Sollte man die Mutter und die Verwandten alarmieren? "Du wirst sehen, sie werden mir glauben, aber es ist ihnen vollkommen egal", habe Viktor seiner Schwester dazu gesagt. Das Geheimnis vergiftete über Jahre das Verhältnis der Geschwister zur Mutter. Und als Camille es 2008 innerhalb der Familie offenlegte, geschah das
Erwartete: Der Clan schloss die Reihen, das Geheimnis wurde gewahrt, man tat, als sei nichts vorgefallen. Der Zorn der Familie richtete sich gegen die Kinder, die das Schweigegebot verletzt hatten.
Normalerweise hätte Camille Kouchners Familiengeschichte außer als Futter für die Gesellschaftsmagazine keine größere Beachtung ausgelöst. Aber so öffnete das Buch die Schleusen: Seit rund einer Woche offenbaren sich auf Twitter unter dem Hashtag #MeTooIncest Tausende von Franzosen als Opfer sexueller Gewalt in der Familie. Unter dem Pseudonym Marie Chenevance schrieb eine Aktivistin:
"Ich war fünf. Und eines Abends hat der Bruder meiner Mutter meine Unschuld zerstört und den Rest meiner Tage verdunkelt. Innerhalb einer Sekunde bin ich 100 Jahre alt geworden".
Auf diese erste Botschaft folgte eine Flut von Mitteilungen über unbeachtete, ungesühnte sexuelle Gewalt gegen Kinder. Und die Täter stammten überwiegend aus den eigenen Familien. In einer Umfrage gaben zehn Prozent der Franzosen an, sie seien Opfer inzestuöser Handlungen geworden. "Ich war 13, er 26 und mein
Onkel, ein Marineoffizier." "Mein Vater sagte mir, es sei normal, man müsse doch sehen, wie der Körper der Tochter sich entwickeln würde". "Mein Bruder begann mich zu vergewaltigen als ich sechs Jahre alt war" – die Beschreibungen ähneln sich auf bedrückende Weise, hinter jeder steht ein Schicksal.
Einige Politiker unterstützen inzwischen die Aktion: "Jedes Zeugnis reißt die Mauer des Schweigens ein. Um das Tabu zu beenden, muss man den Opfern erlauben, aus der Scham, der Angst, der Straflosigkeit hervorzukommen", schreibt die Abgeordnete Clémentine Autain. Der Europaparlamentarier Raphael Glucksmann betont: "Die #MeToo-Welle bedeutet nicht den Einzug des Puritanismus, sondern die Ablösung unerträglicher Dominanzstrukturen durch das (offene) Wort". Und Jugendminister Jean Michel Blanquer erklärte: "Diejenigen, die davon wussten und nichts sagten, sollen sich schämen. Jeder, der von solchen Taten erfährt, muss sie offenbaren. Wer nichts sagt, macht sich zum Komplizen".
Olivier Duhamel ist inzwischen von allen Ämtern zurückgetreten und hüllt sich in Schweigen. Bernard Kouchner, der Vater der Kinder, erklärte am Tag vor der Veröffentlichung des Buches: "Ein schweres Geheimnis hat seit langem auf uns gelastet und wurde glücklicherweise gelüftet. Ich bewundere den Mut meiner Tochter Camille". Er selbst hatte allerdings jahrelang zum Schweigekartell der "großen Familie" gehört.
"Wir waren elektrisiert von all diesen Zeugnissen", sagt die Psychiaterin Muriel Salmona, Spezialistin in der Behandlung von Gewaltopfern, gegenüber der DW. "Es war eine Art Befreiung des Redens (über solche Taten)". Es sei phantastisch zu sehen, wie das Gesetz des Schweigens und das Tabu fielen und die Verleugnung dessen, was man in Frankreich eine Kultur der Vergewaltigung nennt. "Mit einem Schlag, durch das Buch von Camille Kouchner, gab es eine Art (gemeinsamer) Sicherheit. Es ist, als wäre eine Bombe hoch gegangen".
Warum konnten die Opfer sich bisher so schwer offenbaren? Sie hätten Angst, seien trotz der Gewalterfahrung an ihre Familien gebunden und stünden einer Gesellschaft gegenüber, die solche Taten leugne, davon nichts wissen wolle. Manche Opfer litten am Ende unter einem traumatischen Gedächtnisverlust und es könne Jahrzehnte dauern, bis sie sich offenbarten. Die Psychiaterin lobt die Rolle der sozialen Netzwerke, die den Opfern jetzt einen Raum der Solidarität eröffneten.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder in den eigenen Familien komme überall auf der Welt vor, sagt Muriel Salmona. Typisch französisch aber sei eine Art von Propaganda, die solche Gewalt bei einer privilegierten Elite gerechtfertigt habe, vor allem in den 1970er und 1980er Jahren. "Wenn jemand Macht besitzt, und Roman Polanski ist