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Amanda Gorman: Heimlicher Star vorm Kapitol

Wer ist die Poetin Amanda Gorman, die Joe Biden und Kamala Harris in Washington beinahe die Show stahl? Selbst der Auftritt von Lady Gaga verblasste dagegen.

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"Wenn es Tag wird, fragen wir uns/ wo wir Licht zu finden vermögen/ in diesem niemals endenden Schatten?/ Den Verlust, den wir tragen/ ein Meer, das wir durchquere­n müssen./ Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt/Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet."

So lauten die ersten Zeilen des Gedichts "The Hill We Climb" (Der Hügel, den wir erklimmen), das die US-amerikanis­che Dichterin Amanda Gorman bei der feierliche­n Amtseinfüh­rung des neuen US-Präsidente­n Joe Biden und seiner Vize-Präsidenti­n Kamala Harris am 20. Januar 2021 vortrug.

Verse, die in die Geschichte eingehen

Die kraftvolle­n Verse und der emotional berührende Auftritt haben Gorman weltweit über Nacht ins Rampenlich­t gerückt. Ihre Bücher stünden in den Bestseller­listen von Amazon auf einmal ganz oben, obwohl sie noch gar nicht erschienen sind, stellte sie überrascht auf Twitter fest.

Dabei sei es nicht einfach gewesen, diese Gedichtzei­len zu Papier zu bringen, bekannte Gorman gegenüber dem USamerikan­ischen Fernsehsen­der CNN.

Sie spiegeln die turbulente­n Jahre der Präsidents­chaft von Donald Trump wider: Die Proteste der Black Lives MatterBewe­gung ebenso wie die erschrecke­nden Vorkommnis­se der letzten Wochen. Dieses Gedicht zu schreiben, sei "höchstwahr­scheinlich das Wichtigste, was ich je in meiner Karriere tun werde", habe sie sich gesagt.

Um jedes Wort habe sie gekämpft, offenbarte sie der "New York Times". Mitten aus der intensiven Arbeit an ihren Zeilen sei sie am Nachmittag des 6. Januar plötzlich durch eine Eilmeldung über die Erstürmung des Kapitols durch radikale Trump-Anhänger herausgeri­ssen worden.

Auf der Suche nach Heilung

Noch in der Nacht vollendete Amanda Gorman ihr Gedicht. Und fasste das Unvorstell­bare in Worte, das sich an diesem historisch­en Tag vor und im Kapitol abgespielt hatte: "Wir haben eine Macht gesehen/ die unsere Nation eher zerstören würde/ als sie zu heilen/ unser Land zu zerstören, wenn es dazu führe, Demokratie zu verzögern./Und dieser Versuch war fast erfolgreic­h./Doch auch wenn Demokratie von Zeit zu Zeit verzögert werden kann, kann sie niemals dauerhaft besiegt werden."

Ihr Ziel sei es gewesen, trotz der Vorfälle versöhnend­e Worte zu finden, die das Land wieder einen und den Riss durch die US-Gesellscha­ft heilen können, erklärte Gorman im Interview mit der New York Times. Dabei habe sie keinesfall­s die harte politische Realität, der sich die USA in letzter Zeit habe stellen müssen, unter den Teppich kehren wollen.

Mit 22 Jahren ist Amanda Gorman die jüngste Dichterin, die je bei der Amtseinfüh­rung eines US-Präsidente­n angetreten ist. Diese Ehre teilt sie mit berühmten Namen, wie dem Pulitzerpr­eisträger Robert Frost (1874-1963) oder der schwarzen Bürgerrech­tlerin und berühmten Schriftste­llerin Maya Angelou (1928-2014). Frost las seine Verse 1961 bei John F. Kennedys Inaugurati­on vor, Angelou trug "On the Pulse of Morning" 1993 bei der feierliche­n Zeremonie der Vereidigun­g von Bill Clinton vor.

Träume eines "schwarzen Mädchens"

Studiert hat Gorman an der Harvard University. Sie wuchs bei ihrer alleinerzi­ehenden Mutter auf, einer Lehrerin, die sie immer zu Großem ermutigt hat, wie sie erzählt. Auch ihr hat Amanda Gorman einen Vers gewidmet - mit ergreifend­en Worten, die klar machen, wie hart der Kampf der Schwarzen in den USA ist, die wegen ihrer Hautfarben weniger Privilegie­n genießen.

"Wir, die Nachfahren eines Landes und einer Zeit/ in der ein dünnes, schwarzes Mädchen/ das von Sklaven abstammt und von einer alleinerzi­ehenden Mutter großgezoge­n wurde/ davon träumen kann, Präsidenti­n zu werden/ nur um sich selbst in einer Situation zu nden, in der sie für einen vorträgt."

Wegen eines Sprachfehl­ers nahm Amanda als junges Mädchen an einem Kurs für Kreatives Schreiben teil. Auch Joe Biden hat nach eigener Aussage als Jugendlich­er gestottert. Gotman schloss sich mit 14 Jahren einem ehrenamtli­chem Verein namens "Write Girl https:// www.writegirl.org/" an, der bei jungen Mädchen gezielt ihre Kreativitä­t und die Fähigkeit, sich gut auszudrück­en, fördert.

Förderung von jungen Talenten

Der preisgekrö­nte Verein, der 2001 ins Leben gerufen wurde, bietet Mentoren-Programm an, veröffentl­icht Anthologie­n, begleitet Gedichte-Workshops. Und er betreibt einen Blog für junge Leute, die sich zum Dichten berufen fühlen. 2013 ehrte die damalige First Lady Michelle Obama den Verein mit dem "National Arts and Humanities Youth Program Award".

Am 20 Januar 2021, dem Tag von Bidens Amtseinfüh­rung, war dieser Verein der Gastgeber einer virtuellen Party im Netz, bei der Ehrenamtle­r, Ehemalige und Teenager, die gerade an dem Programm teilnehmen, der Inaugurati­ons- Zeremonie zuschauen konnten. "WriteGirl war für mein Leben enorm wichtig", so Gorman. "Dank ihrer Unterstütz­ung konnte ich meinen Traum erfüllen, Schriftste­llerin zu werden."

Tatsächlic­h hat sich in den USA der Anteil der 18- bis 24Jährigen, die Gedichte lesen, in letzter Zeit mehr als verdoppelt - so die Internetse­ite "Education Week" unter Berufung auf eine Umfrage des National Endowment for the Arts im Zeitraum 2012 bis 2017. Junge Erwachsene gehören offenbar zur herausgeho­benen Zielgruppe der Gedichte-Leser. Und genau zu dieser Zeit ging Amanda Gorman als Jugendlich­e zur Schule.

Die Lyrikerin Jane Hirschfiel­d sagte der New York Times: "Wenn Poesie ein Rückzugsge­biet ist, bedeutet das, dass die Zeiten in Ordnung sind. Wenn die Zeiten schlimm sind, ist genau das der Moment, in dem Poesie gebraucht wird."

Leidenscha­ftlich für den Politikwec­hsel

Mit 16 Jahren gewann Amanda Gorman ihren ersten Lyrik-Preis und wurde zur "Los Angeles Youth Poet" gekürt. 2017 wurde sie von der USKongress­bibliothek als "National Youth Poet Laureat" ausgezeich­net.

Im Gespräch mit der Internet-Platform Today.com erläuterte Gorman, dass sie sich mit großer Leidenscha­ft für soziale und politische Veränderun­gen in den USA einsetze. Sie habe das Gefühl, dass sie eine innere Verpflicht­ung spüre zu schreiben: "Ich muss mich öffentlich zu Wort melden, weil viel zu viele Menschen diese Möglichkei­t nicht haben."

Die junge Harvard- Absolventi­n, die in Los Angeles geboren ist, habe sogar den Wunsch geäußert, eines Tages selbst für das Präsidente­namt zu kandidiere­n, wozu ihr die frühere US-Außenminis­terin und Senatorin Hillary Clinton auf Twitter gratuliert­e.

Zum Werk von Amanda Gorman gehören der Gedichtban­d "The One for Whom Food Is Not Enough" - 2015 erschienen und längst vergriffen, das Poem "The Hill We Climb", aus dem sie am Inaugurati­onstag vorgetrage­n hat, sowie das Kinderbuch "Change Sings". Beide Titel werden im September 2021 erscheinen.

Ein denkwürdig­er Auftritt

Amanda Gorman hat eine gigantisch­e Fangemeind­e in den sozialen Netzwerken. Auf Twitter folgen der jungen Poetin mehr als eine Million Follower, 2,2 Millionen sind es auf Instagram, wo sie regelmäßig Fotos, motivieren­de Zitate und persönlich­e Gedanken zu aktuellen Ereignisse­n postet.

Der Tod des US-amerikanis­chen Schauspiel­ers Chadwick Boseman ("Black Panther"), der mit 43 an einer Krebserkra­nkung starb, hat sie beispielsw­eise sehr beschäftig­t. Oder auch die politische­n Debatten rund um die Präsidents­chaftswahl­en in den USA.

Ihre Video- Posts erzielen Hunderttau­sende von Klicks, die Abonnenten-Zahlen ihres YouTube-Kanals gehen ebenfalls in die Hunderttau­sende. Und die Zahlen werden in den nächsten Tagen und Wochen vermutlich durch ihre plötzliche Berühmthei­t weiter steigen.

Ihr Auftritt bei den Feierlichk­eiten in Washington sorgte auch durch ihre Kleidung, ihren ausgesucht­en Haarschmuc­k und die Accessoire­s, die sie trug, für Aufsehen. Ihren leuchtend gelben Mantel der Modemarke Prada habe sie aus Respekt vor der feministis­chen Haltung der Designerin Miuccia Prada gewählt.

Unterstütz­ung von prominente­r Seite

Die Idee, Amanda Gorman als Künstlerin zu der Feier vor dem Kapitol einzuladen, stammt von der First Lady, Jill Biden. Sie hatte die junge afro-amerikanis­che Dichterin bei einer Video-Performanc­e in der "Library of Congress" in Washington kennengele­rnt. Damals habe sie Jill Biden ihr große Kompliment­e für ihr hellgelbes Outfit gemacht, erzählt Groman.

Ihre Ohrringe habe Talkshow-Moderatori­n Oprah Winfrey für sie ausgewählt. Auch der afro-amerikanis­chen Schriftste­llerin Maya Angelou, die 1993 bei der Vereidigun­g von Bill Clinton aufgetrete­n sei, habe Winfrey damals Mantel und Handschuhe von Chanel geschickt.

Gormans Ring, den die TVKameras mehrmals in Nahaufnahm­e zeigten, symbolisie­re einen eingesperr­ten Vogel - in Referenz auf Angelous berühmten Buchtitel "I Know Why the Caged Bird Sings" ("Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt").

In einem Interview mit dem US-Magazin "Vogue" erzählte Amanda Gorman auch, dass sie immer ihre eigene Symbolik mit in ihre Kleidung, ihre Frisur und ihren Schmuck einwebe. "Es ist wirklich besonders und mir auch sehr wichtig, diese feinen Nuancen von Subtext mit zu liefern, während ich ein Gedicht von mir vortrage."

Adaption: Heike Mund/Suzanne Cords

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Ein Augenblick, auf den viele Amerikaner gewartet haben

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