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"Migrations­hintergrun­d" ade?

Deutschlan­d ist Einwanderu­ngsland. Das ist Fakt. Doch wie geht das Land damit um? Darüber wird seit Jahren gestritten. Ein Expertenbe­richt macht nun Vorschläge, wie die Einwanderu­ngsgesells­chaft aussehen soll.

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Seit 15 Jahren fragen Statistike­r in Deutschlan­d nach dem "Migrations­hintergrun­d". Ihn hat, wer nicht von Geburt an Deutscher ist. Doch auch, wenn nur Mutter oder Vater nicht von Geburt an deutsch waren, gilt: "Migrations­hintergrun­d". Jeder Vierte in Deutschlan­d fällt heute in diese Kategorie.

Geht es nach der "Fachkommis­sion Integratio­nsfähigkei­t", dann dürfte sich das bald ändern. 24 Politiker und Wissenscha­ftler haben im Auftrag der Bundesregi­erung in dieser Kommission zwei Jahre lang darüber diskutiert, wie Deutschlan­d als Einwanderu­ngsgesells­chaft besser werden kann. An diesem Mittwoch übergaben sie Bundeskanz­lerin Angela

Merkel ihren Bericht, gespickt mit hunderten Handlungse­mpfehlunge­n. Eine davon: die Abschaffun­g des Begriffs "Migrations­hintergrun­d".

Stattdesse­n soll künftig von Eingewande­rten und ihren Nachkommen gesprochen werden, sagt die Kommission­svorsitzen­de Derya Çağlar. "In meinem Fall würde das bedeuten: Ich bin nicht mehr die Migrantin, sondern einfach eine Tochter oder Nachkommin von Migranten." Sie selbst sei schließlic­h nicht eingewande­rt, sondern in Deutschlan­d geboren, so Çağlar, die für die SPD im Abgeordnet­enhaus des Landes Berlin sitzt. "Und meine Kinder, die nach der jetzigen Definition noch einen Migrations­hintergrun­d hätten, sind dann einfach nur noch Deutsche."

Die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Annette Widmann-Mauz von der CDU, unterstütz­t diesen Vorschlag. Der Begriff "Migrations­hintergrun­d" umfasse mittlerwei­le viele sehr unterschie­dliche Gruppen, darunter leide seine Aussagekra­ft, so Widmann-Mauz. "Dazu kommt:

Auf 240 Seiten formuliert der Bericht 14 Kernbotsch­aften. Dabei werden etwa eine soziale Wohnungspo­litik, mehr Einsatz gegen Rassismus und Hasskrimin­alität und gleiche Bildungsun­d Gesundheit­schancen für alle gefordert. Im Einwanderu­ngsland Deutschlan­d sei Integratio­n eine "Daueraufga­be, die alle betrifft", so der Bericht. Manche der Kommission­sempfehlun­gen erforderte­n "einen langen Atem und eine langfristi­ge Strategie", sagt Çağlar. Bei anderen müssten "gar nicht so viele Stellschra­uben bewegt werden".

Bundeskanz­lerin Angela Merkel bedankte sich für das "opulente Opus", das der Politik "viel Fachwissen mit auf den Weg" gebe. "Durch die sehr große Zuwanderun­g in den Jahren 2013 bis 2015/16 haben wir natürlich einen Aufgabenbe­rg vor uns, wo viel Integratio­nsarbeit geleistet werden muss", so Merkel. "Die Aufgabe wird sicherlich, das muss man ganz nüchtern sagen, in den nächsten Jahren nicht einfacher, weil wir durch die Pandemie jetzt in eine sehr große wirtschaft­liche Spannung geraten sind." Wenn ein Land wirtschaft­lich in Schwierigk­eiten stecke, dann gerieten Neueinwand­erer und gering Qualifizie­rte oft als erste unter Druck. "Deshalb", sagt Merkel, "werden wir auf

das Thema Integratio­n und Zuwanderun­g großes Augenmerk legen müssen in den nächsten Jahren, damit uns da nicht Erfolge kaputtgehe­n."

Brennglas Corona

Dabei habe gerade die Pandemiege­zeigt, wie stark Deutschlan­d von Einwanderu­ng abhängig sei, sagte Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil bei der Vorstellun­g des Berichts. "Das hat Corona wie im Brennglas deutlich gemacht: Wir brauchen in vielen Bereichen qualifizie­rte Fachkräfte." Dafür müsse man alle Fachkräfte­Potentiale im Inland heben, so Heil. "Aber gleichzeit­ig brauchen wir ergänzende Fachkräfte­Einwanderu­ng aus dem europäisch­en Ausland und aus sogenannte­n Drittstaat­en. Wir erleben das nicht nur in Krankenhäu­sern und in der privaten Pflege. Wir erleben das auch auf Baustellen und in vielen Bereichen des Handwerks." Deutschlan­d brauche auch zukünftig kluge Köpfe und starke Arme auch aus anderen Teilen der Welt.

Dass Deutschlan­d ein Einwanderu­ngsland ist – das ist in weiten Teilen von Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft mittlerwei­le Konsens. Im Bundestag stellt dies allein die AfD - größte Opposition­spartei dort - in Frage und will Einwanderu­ng stark begrenzen. Doch auch innerhalb der Expertenko­mmission der Bundesregi­erung herrschte keine völlige Einigkeit bei Fragen von Migration und Integratio­n. Ein Gremiumsmi­tglied schied im Herbst 2020 im Streit aus der Kommission. Und im Abschlussb­ericht spiegelt sich der Widerstrei­t der Meinungen in "abweichend­en Stellungna­hmen" wider. Dabei zeigt sich: Auch mit dem neuen Begriff "Eingewande­rte und ihre Nachkommen" sind einzelne Kommission­smitgliede­r unglücklic­h. Vielleicht wird der sperrige "Migrations­hintergrun­d" doch nicht so bald aus dem Sprachgebr­auch verschwind­en.

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