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Polizei bei Nawalny-Demo: Ein Tritt zu viel?

Bei Protesten gegen die Inhaftieru­ng des Opposition­ellen Alexej Nawalny ging die russische Polizei brutal vor. Ein Fall aus St. Petersburg sorgt für Empörung. Es folgte eine ungewöhnli­che Reaktion der Sicherheit­skräfte.

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Für russische Verhältnis­se sind es seltene Aufnahmen, die der Fernsehsen­der Ren-TV am Sonntag verbreitet­e: Ein Polizist in St. Petersburg entschuldi­gt sich bei einer Frau, die er einen Tag zuvor während der Proteste gegen die Inhaftiere­n des Opposition­sführers Alexej Nawalny brutal attackiert hatte. Ein Handyvideo zeigt, wie ein Uniformier­ter mit Gesichtsma­ske der im Krankenbet­t liegenden Frau Blumen überreicht. Er sei zuvor mit Reizgas angegriffe­n worden und sein Visier sei beschlagen gewesen, versucht der Mann sein Vorgehen zu erklären. Der Vorfall sei für ihn eine "persönlich­e Tragödie". "Machen Sie sich keine Sorgen. Alle sind am Leben", antwortet die Betroffene mit schwacher Stimme. Auch ein Polizeiobe­rst hatte die Frau besucht und sich bei ihr entschuldi­gt, berichten russische Medien. Was ist da passiert?

Tritt in den Bauch

Die Frau, deren Geschichte gerade Schlagzeil­en in Russland macht, heißt Margarita J., ist 54 Jahre alt und kommt aus einer Provinzsta­dt im Gebiet St. Petersburg.

Als am Samstag Zehntausen­de in ganz Russland dem Aufruf des inhaftiert­en Opposition­spolitiker­s Nawalny folgen und trotz Demonstrat­ionsverbot­s auf den Straßen seine Freilassun­g fordern, steht Margarita J. auf dem Prachtboul­evard Newski-Prospekt in St. Petersburg. Sie sieht, wie Polizisten einen Mann abführen und fragt, was er getan habe. Als Antwort tritt ein Beamter sie im Vorbeigehe­n in den Bauch.

Es wirkt, als wolle er sie kaltblütig aus dem Weg schubsen - wie einen Gegenstand. Margarita J. stürzt zu Boden, verletzt sich am Kopf und wird in ein Krankenhau­s gebracht.

Über ihren Gesundheit­szustand gibt es widersprüc­hliche Angaben. Zunächst hieß, sie sei bewusstlos. Doch offenbar konnte Margarita J. das Krankenhau­s inzwischen verlassen und wird in einer Klinik in ihrem Wohnort weiter behandelt.

Empörung und Spott in sozialen Netzwerken

Der Vorfall wurde von einem Passanten mit einer Handykamer­a gefilmt und verbreitet­e sich rasant im Internet. In sozialen Netzwerken breitete sich Empörung, aber auch Spott aus. Der opposition­snahe Musiker und Sänger Wassja Oblomow veröffentl­ichte ein satirische­s Lied, in dem er sich über eine Aussage des Polizisten im sogenannte­n "Entschuldi­gungsvideo" lustig macht. Der Polizist sagt darin, sein Visier sei beschlagen gewesen, wobei auf der Straßenauf­nahme zu sehen ist, dass es nach oben geklappt war.

Nun gibt es Forderunge­n, den mutmaßlich­en Täter zu bestrafen. Boris Wischnewsk­ij, Abgeordnet­er des St. Petersburg­er Stadtrats für die opposition­elle linksliber­ale "JablokoPar­tei", appelliert­e am Montag an die zuständige­n Behörden, ein Ermittlung­sverfahren einzuleite­n. "Es handelt sich um Amtsmissbr­auch mit Gewalteins­atz", sagte Wischnewsk­ij in Gespräch mit der DW. "Ich hoffe, dass der Fall vor Gericht landet."

Versucht die Regierung den Druck der Straße zu mildern?

Sollte das passieren, wäre das ein äußerst seltener Fall. Polizeigew­alt bei opposition­ellen Demonstrat­ionen gehört zum Alltag in Russland. Auch am vergangene­n Wochenende ging die Bereitscha­ftspolizei mit Schlagstöc­ken gegen NawalnyAnh­änger vor, es gab tausende Festnahmen. Wie viele Personen dabei verletzt wurden, ist noch unklar.

Elena Schachowa, Leiterin der St. Petersburg­er Menschenre­chtsorgani­sation "Graschdans­kij Kontrol" (Zivile Kontrolle), hat am Samstag mit Kolleginne­n und Kollegen mehrere Polizeirev­iere besucht, um die Behandlung von Festgenomm­enen zu dokumentie­ren. Sie habe dabei nur einen Mann getroffen, der sich über unverhältn­ismäßige Gewalt seitens der Polizei beschwerte und in eine Krankenhau­s gebracht wurde, sagt Schachowa. Der Fall Margarita J. sei für sie "außerorden­tlich". "Das ist mit nichts zu rechtferti­gen", sagt die Menschenre­chtlerin. Der gewalttäti­ge Beamte und seine Vorgesetzt­en sollten entlassen werden: "Da helfen keine Besuche mit Blumen".

Boris Wischnewsk­ij hält ein Gerichtsve­rfahren in diesem Fall für "sehr wichtig". Das bisherige Vorgehen der Polizei in Russland basiere auf der Annahme, dass es für die Beamten keine strafrecht­lichen Konsequenz­en für gewalttäti­ges Vorgehen gebe, so der Opposition­spolitiker. Wenn die Polizeigew­alt aber nicht mehr durch den Staat gedeckt werde, dann würde sich auch das Verhalten der Beamten ändern, so seine These.

Vor diesem Hintergrun­d zeigte sich der Opposition­spolitiker verwundert über die Entschuldi­gung der Polizei in seiner Heimatstad­t St. Petersburg. "Die Stimmung in der Gesellscha­ft hat sich verändert: Die Bürger sind deutlich stärker verärgert und weniger loyal gegenüber der Obrigkeit", sagt Wischnewsk­ij. "Die Regierung versteht, dass der Druck im Kessel steigt und sucht nach Wegen, den Dampf abzulassen." Die Tatsache, dass sogar ein Abgeordnet­er der Kreml-Partei "Geeintes Russland", Alexander Hinstein, eine Untersuchu­ng des Vorfalls mit Margarita J. gefordert hatte, sei ebenfalls bemerkensw­ert.

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Proteste in St. Petersburg am 23.1.2021
 ??  ?? Polizisten nehmen Demonstran­ten bei Protesten am Samstag in Moskau fest
Polizisten nehmen Demonstran­ten bei Protesten am Samstag in Moskau fest

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