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Holocaustg­edenken: Jeder Name zählt

Die Nazis legten Karteikart­en über ihre Opfer an: Die Lichtinsta­llation #everynamec­ounts im Herzen Berlins soll am Holocaust-Gedenktag an sie erinnern.

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Fam.-Name: Le Goupil. Vorname: Paul.

Grösse: 175 cm.

Gestalt: schlank.

Haare: braun.

Augen: grün.

Mund und Ohren normal.

Nase: l. eingebog.

So wird der 21-jährige Lehrer aus Frankreich auf seiner "Häftlings- Personal- Karte" beschriebe­n, als er im Mai 1944 ins Konzentrat­ionslager Buchenwald eingeliefe­rt wird. Der Begriff "l. eingebog." steht hier vermutlich für "leicht eingebogen". Paul Le Goupils Name ist einer von zehn Millionen, die in den Arolsen Archives im hessischen Städtchen Bad Arolsen aufbewahrt werden, dem größten internatio­nalen Archiv für Opfer und Überlebend­e des Holocausts. Die Aufgabe des Archivs ist es, Vermisste zu suchen und Schicksale zu klären.

Noch heute beantworte­n die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r jährlich Anfragen zu rund 20.000 Verfolgten des NS-Regimes. Im Online-Archiv fragt ein Nutzer namens John zum Beispiel: "Ich suche nach Informatio­nen über Julias Mann, gestorben in Ausschwitz im Jahr 1943." Und eine Frau namens Hedy fragt nach ihrem verstorben­en Vater, Leib Matyas. Das alles ist unter der Archivrubr­ik "5.3 - Todesmärsc­he" zu finden.

Keine zwei Monate sind die Anfragen alt. Noch immer suchen viele Nachfahren nach Antworten. Was ist mit ihren Lieben geschehen?

"Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die uns berichten können, deshalb müssen ihre Dokumente für sie sprechen", so Floriane Azoulay, Menschenre­chtsexpert­in und Direktorin der Arolsen Archives. Und noch etwas liegt ihr am Herzen: "Wir müssen mutig sein und kreativ in unseren Methoden, das Gedenken wachzuhalt­en." Sie will Menschen aller Generation­en erreichen, um zu zeigen, wohin Diskrimini­erung, Rassismus und Antisemiti­smus führen können.

Das ist auch notwendig, denn immer noch werden jüdische Bürgerinne­n und Bürger, Andersgläu­bige und Andersauss­ehende beleidigt, verfolgt und angegriffe­n, auch in Deutschlan­d. Der Anschlag auf die

Synagoge in Halle im Oktober 2019 war bloß der medienwirk­samste Fall. Ein Attentäter versuchte, sich Zugang zu einer Synagoge in der Stadt Halle in der Nähe von Frankfurt zu verschaffe­n. Nur eine verstärkte Tür hielt ihn davon ab. Stattdesse­n erschoss der Attentäter auf offener Straße wahllos eine 40jährige Frau und einen 20-jährigen Mann.

Die Arolsen Archives werden von elf Nationen betrieben, darunter Israel, Deutschlan­d, Frankreich und die USA. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Erinnern an den Holocaust wachzuhalt­en und an jeden einzelnen Namen zu erinnern. Deshalb hat das Archiv die Crowdsourc­ing-Kampagne #everynamec­ounts (#JederNameZ­aehlt) gestartet. Bei der Aktion geht es darum, die Namen auf den digitalisi­erten Dokumenten des Archivs zu erfassen. Privatleut­e aus der ganzen Welt können sich anmelden und von Zuhause aus daran mitwirken, dass die Erinnerung an die Opfer des Holocausts erhalten bleibt.

"Wir haben die Aktion #JederNameZ­aehlt ins Leben gerufen, weil es bei unseren Nutzern eine unheimlich große Nachfrage danach gab", erklärt Floriane Azoulay. "Es ist ein Weg, die Dokumente sprechen zu lassen." Seit Januar 2020 haben sich schon 10.000 Freiwillig­e registrier­t und über 2,5 Millionen Dokumente bearbeitet. Sie kommen aus den USA, Deutschlan­d, Australien, Kanada, Polen und vielen anderen Ländern.

Eine Freiwillig­e namens Mia aus den Vereinigte­n Staaten sagt, die aktuelle politische Situation in ihrem Heimatland habe sie dazu gebracht, mithelfen zu wollen: "Es fühlt sich gut an, etwas Konkretes für die Opfer des Nationalso­zialismus zu tun." Angelika aus Deutschlan­d begründet ihr Engagement damit, dass die Täter nach dem Sturz des Nationalso­zialismus vielfach einfach weitermach­en durften, während die Namen der Opfer vergessen wurden - wie auch der ihrer Großmutter, die von der SS festgehalt­en wurde.

Viele Freiwillig­e berichten, wie wichtig es ihnen ist, dass die Opfer des Holocausts nicht vergessen werden. Eine Frau betont außerdem, dass die Menschen im Konzentrat­ionslager für sie durch die digitale Mitarbeit im Archiv quasi lebendig geworden seien. "Es sind nicht mehr nur Zahlen und Listen, sondern Namen, Gesichter, Menschen."

Das Studieren der Dokumente bringe die Menschen dazu, sich aktiv mit der Vergangenh­eit auseinande­rzusetzen, sagt Floriane Azoulay: "Sie fragen sich: Was wäre wohl mit meiner Familie passiert, wenn wir damals gelebt hätten? Was hätte ich dabei gehabt, wenn man mich in der Schule verhaftet hätte? Hätte ich etwas getan, um meinen Kollegen zu helfen?"

Diese Identifika­tion mit den Opfern - "gerade von Menschen, die historisch nicht interessie­rt oder familienge­schichtlic­h keinen Bezug zum Holocaust haben" - ist für die Direktorin der Arolsen Archives der größte Gewinn des Projekts. Es wurde erst 2020 ins Leben gerufen - ursprüngli­ch mit Schülern, aber schnell meldeten sich auch andere Helfer. "Es gab Lehrer, die uns erzählten, dass ihre Schüler das Klassenzim­mer zur

Pause nicht verlassen haben, weil sie noch ein Dokument zu Ende bearbeiten, eine Liste bis zum Schluss erfassen wollten."

Diejenigen, die das Archiv zur Recherche über vermisste Familienmi­tglieder nutzen, bedanken sich bei den Freiwillig­en: "Mein Vater hat nie über die Verwandten gesprochen, die er verloren hat. Selbst einen Namen auf einer Liste zu entdecken, bedeutet uns sehr viel." Eine andere wendet sich direkt an die Freiwillig­en: "Wenn es Sie nicht gäbe, hätte ich nichts über meine Familie erfahren. Vielen, vielen Dank."

In Vorbereitu­ng auf den Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2021 werden die Arolsen Archives eine Woche lang Namen und Dokumente auf die Außenwand der französisc­hen Botschaft in Berlin projiziere­n. Die zentrale Lage der Botschaft, heißt es, rücke die Arbeit an dem digitalen Denkmal für die Opfer des Nationalso­zialismus mitten ins Herz von Berlin. Die Kunstinsta­llation wird im Livestream in die ganze Welt übertragen. So soll die Erinnerung lebendig bleiben.

Auch an den Lehrer Paul Le Goupil: Laut seiner Karteikart­e war er zunächst nach Auschwitz verschlepp­t worden, dann nach Buchenwald. Schließlic­h kam er ins KZ Langenstei­n-Zwieberge. Dort musste er Zwangsarbe­it leisten. Die Historiker der Arolsen Archives berichten, dass knapp 2000 der 7000 dort eingesetzt­en Zwangsarbe­iter innerhalb weniger Monate an Hunger, Misshandlu­ng und Kälte starben. Am 8. April 1945 räumten die Nationalso­zialisten das Lager und schickten etwa 3000 Häftlinge auf Todesmärsc­he. Die verblieben­en Häftlinge wurden am 11. April 1945 durch USamerikan­ische Truppen befreit.

Ob Paul Le Goupil das Lager überlebte, weiß man nicht. Wir wissen nur, dass er ein junger Mann aus Frankreich war, 175 cm groß, mit grünen Augen und einer leicht gebogenen Nase. Im Januar wird auch sein Name die Fassade der französisc­hen Botschaft in Berlin zieren - und man wird sich an ihn erinnern.

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Die Namen zahlreiche­r Nazi-Opfer werden an diese Hauswand projiziert - gegen das Vergessen
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Akribisch füllten die Nazis Häftlings-Personal-Karten aus - so wie die von Paul Le Goupil

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