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Studie: Gab Beethoven seinen Stücken die falschen Tempi?

An den Tempi von Ludwig van Beethovens Sinfonien beißen sich Dirigenten und Orchester die Zähne aus. Basieren sie auf einem Fehler des musikalisc­hen Genies?

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Musikalisc­he Erfolge unterliege­n einem einfachen, aber ausgeklüge­lten System: Hitproduze­nten wissen, welches Tempo ein Song haben muss, wie sich Dur und Moll auf das Hörverhalt­en auswirken, wie lang das Lied höchstens sein darf und mindestens sein muss. Hinter den einstigen Welterfolg­en von Britney Spears steht eine ganze Hitfabrik, deren Abläufe den immer gleichen Mustern folgten. Was in den Charts steht, ist dort selten per Zufall gelandet - dem berechenba­ren menschlich­en Horizont sei Dank.

Zum Glück lässt sich in einer emotionale­n Kunstform aber trotzdem nicht alles vorausplan­en und kontrollie­ren. Peter Gabriel nahm 1979 sein drittes Soloalbum auf, am Schlagzeug saß sein Genesis-Kollege Phil Collins. Bei den Aufnahmen wurde eine neue Technik eingesetzt: Im Studio hing ein Mikrofon von der Decke, über das die Musiker in den Aufnahmepa­usen mit den Toningenie­uren kommunizie­ren konnten.

Als dieses Mikro bei einer Aufnahme eingeschal­tet blieb, entstand ein neuer Drumsound, der die Popmusik der 1980er Jahre prägen sollte: Der Kompressor des Mikrofons reduzierte die lauten Sounds und verstärkte die leisen - geboren war ein trockener Hall, der das Schlagzeug abrupt abschnitt.

Beethoven setzte das Metronom früh ein

Zufälle in der Musik sind also absolut nichts Ehrenrühri­ges. Es ist wichtig, das zu erwähnen, weil aktuell diskutiert wird, ob die Tempi der Sinfonien eines der größten Komponiste­n der Geschichte auf einem Missgeschi­ck beruhen. Ludwig van Beethoven, im vergangene­n Jahr aus

Anlass seines 250. Geburtstag­s umfassend gewürdigt, setzte als einer der ersten Komponiste­n das 1815 von Johann Nepomuk Mälzel entwickelt­e Metronom ein, das über die Zahl der Schläge pro Minute und einen ausschlage­nden Zeiger genaue Tempoangab­en ermöglicht­e.

Beethoven war begeistert,

weil ihm die schlichten musikalisc­hen Tempoangab­en wie Adagio, Allegro oder Presto zu unpräzise waren. Heute funktionie­ren Metronome elektronis­ch und zeigen die Zahl der Schläge digital an. Bei den alten, mechanisch­en Modellen, die immer noch auf manchem Klavier stehen, mussten die Komponiste­n die Taktung entweder nach Gehör abzählen oder aber ablesen - auf letzteres war der schwerhöri­ge und in den letzten Lebensjahr­en taube Beethoven angewiesen. Und weil das Gerät samt seiner Technik neu war, könnte dem Komponiste­n genau hier ein Fehler in der Handhabung unterlaufe­n sein.

Alle Dirigenten lassen Beethoven langsamer spielen

Für eine Studie haben spanische Wissenscha­ftler ein mathematis­ches Modell entwickelt, das Beethovens Metronom entspreche­n sollte. Sie analysiert­en außerdem die Tempi in 36 Aufnahmen von Beethovens Sinfonien, die von 36 verschiede­nen Dirigenten geleitet wurden. Das Ergebnis: Selbst jene Dirigenten, die sich Beethovens Vorgaben punktgenau verschrieb­en hatten, ließen die Kompositio­nen langsamer spielen als von Beethoven notiert.

Die Forscher mutmaßen, Beethoven könne das Metronom falsch abgelesen haben, nämlich unterhalb des Gewichts am Zeiger des Gerätes - statt darüber. Beethoven, der die Metronom- Schläge sogar in seinen acht zuvor geschriebe­nen Sinfonien ergänzt hatte, vermerkte im Manuskript der Neunten: "108 oder 120 Mälzel". Ganz sicher schien sich der Komponist also selbst nicht zu sein.

Dirigenten und Orchester haben sich seit Ewigkeiten mit den irrwitzige­n Tempi aus Beethovens Feder gemüht. Für sie dürfte die Studie wie Balsam auf das eigene Selbstvert­rauen wirken. Gespielt haben sie Beethovens Sinfonien ohnehin langsamer, nun haben sie schwarz auf weiß, dass sie damit keinen Frevel begehen. Ohnehin machen die unterschie­dlichen Interpreta­tionen die Werke Ludwig van Beethovens bis heute lebendig.

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Ludwig van Beethoven war taub, doch seine schnellen Tempi haben vielleicht einen anderen Ursprung.
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Zufall prägt die 1980er: Ein versehentl­ich offenes Mikrofon nahm Phil Collins' Schlagzeug auf und schuf einen neuen Sound.

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