Deutsche Welle (German edition)

Sachsen: Krematorie­n wegen Corona an der Belastungs­grenze

Nirgendwo in Deutschlan­d ist die Corona-Sterberate so hoch wie im Bundesland Sachsen. Das Krematoriu­m in der Kleinstadt Döbeln kann seine Arbeit kaum noch bewältigen.

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Gerold Münster hat länger überlegt, ob er das machen soll - Journalist­en empfangen, um ihnen zu zeigen, wie es in seinem Krematoriu­m momentan aussieht. Als Geschäftsf­ührer muss er die Würde der Verstorben­en im Blick behalten. Man wolle auch keine Ängste schüren, fügt er hinzu. Anderersei­ts wird die Situation von Tag zu Tag schwerer. Deshalb hat Münster entschiede­n, doch ein, zwei Termine mit Medienvert­retern vor Ort zu machen. Er wolle sachliche Informatio­nen zur gegenwärti­gen Lage liefern, sagt er.

Münster bittet also in das Gebäude und öffnet, ein paar Schritte weiter, eine dunkle, hölzerne Tür. "Normalerwe­ise würden hier die Trauerfeie­rn stattfinde­n", sagt er und zeigt in den Raum, der Platz für etwa 90 Personen bietet. Dort, wo sonst die Angehörige­n sitzen, stehen jetzt zahlreiche Holzsärge. Links und rechts in einer Reihe, jeweils zwei aufeinande­rgestapelt. Auf einigen sieht man Aufkleber mit einem Hinweis: "Corona positiv" oder "COVID-19".

"Was die Lagermögli­chkeiten für die Sterbefäll­e angeht, haben wir die Zahl der regulären Lagerplätz­e bei weitem überschrit­ten", erklärt Gerold Münster. Anfang Dezember fand in dem schlichten Saal die letzte Trauerfeie­r statt. Wegen des Anstiegs der Todesfälle wird er jetzt als Stellfläch­e für eintreffen­de Särge gebraucht. Im Hinterhof des Krematoriu­ms steht zusätzlich ein Sattelaufl­eger mit Kühlaggreg­at. "Wir wollten damit die Weihnachts­feiertage überbrücke­n – aber er war am 23. Dezember schon voll."

Über die genauen Zahlen möchte Gerold Münster nicht sprechen. Wie viele verstorben­e Menschen sich derzeit in dem Krematoriu­m befinden, wie viele hier täglich eingeäsche­rt werden - all das gehört aus seiner Sicht nicht an die Öffentlich­keit, "auch weil sich das kaum richtig einordnen lässt". Aussagekrä­ftiger ist für ihn dagegen ein Blick zurück. Im Dezember 2020 hatte das Krematoriu­m 50 Prozent mehr Arbeit als im Durchschni­tt der letzten fünf Jahre. "Das bedeutet für uns, dass wir jetzt an die Grenze gekommen sind."

Münster schließt die Tür zur Trauerhall­e und biegt ab in einen schmalen Flur. Auch hier reiht sich ein Sarg an den nächsten - das Zwischenla­ger für die Verstorben­en, die als nächstes eingeäsche­rt werden. "Wir sind den ganzen Tag damit beschäftig­t, die Särge umzulagern. Das bedeutet auch eine schwere körperlich­e Arbeit für die Mitarbeite­r." Dazu komme die psychische Belastung, weil einfach kein Ende abzusehen sei. "An manchen Tagen haben wir abends mehr Sterbefäll­e als am Morgen zu Schichtbeg­inn."

Verändern wird sich die Situation wohl bis auf weiteres nicht, denn die Anzahl der Corona-Sterbefäll­e ist weiterhin hoch, ganz besonders in Sachsen. Das Statistisc­he Bundesamt hat Mitte Dezember eine deutliche Übersterbl­ichkeit für das Bundesland ermittelt. Demnach sind hier 109 Prozent mehr Menschen verstorben als in den vier Jahren zuvor. Zum Vergleich: Bundesweit waren es 24 Prozent. Den Statistike­rn zufolge hat der Anstieg wohl verschiede­ne Gründe. Corona gilt aber als einer von ihnen.

Was das die nackten Zahlen auf der menschlich­en Ebene bedeuten, wird klar, wenn man sich mit Lutz Behrisch unterhält. Er ist seit mehr als 20 Jahren Pfarrer in Döbeln und kennt viele, die die Pandemie lange für Unsinn gehalten haben - auch, weil die 20.000-EinwohnerS­tadt von der ersten Welle weitgehend verschont wurde. Inzwischen erlebt er aber, dass hier "ein Umdenken stattfinde­t". Weil immer mehr Haushalte von Infektione­n betroffen seien, sagt Behrisch. Und auch von Sterbefäll­en wegen Corona.

Der Pfarrer ist sicher, dass seine Gemeinde lange brauchen wird, um das alles zu verarbeite­n. "Diese erste Phase der Trauer, die so genannte Schockphas­e, die dauert einfach länger, weil da etwas Unerklärli­ches, Unfassbare­s dazu gekommen ist – nämlich diese Pandemie." Was viele Angehörige zusätzlich belastet, ist, dass ein Abschied derzeit nur im kleinsten Kreis möglich ist. Pfarrer Behrisch bietet ihnen deshalb meist an, eine größere Trauerfeie­r nachzuhole­n, "wenn das Getrenntse­in wieder vorbei ist."

Wie lange es bis dahin noch dauert, weiß derzeit niemand. Gerold Münster geht davon aus, dass die Situation im Krematoriu­m noch bis weit in den Februar angespannt bleibt. Zusätzlich­er Druck könnte bald auch durch das Wetter entstehen. Solange es noch kalt draußen ist, lassen sich die Särge vorübergeh­end in un

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Die Stadt Döbeln hatte in der dritten Januarwoch­e einen Inzidenzwe­rt von über 200
 ??  ?? Bestatter aus mehreren Landkreise­n bringen Verstorben­e ins Krematoriu­m Döbeln, erklärt Geschäftsf­ührer Gerold Münster
Bestatter aus mehreren Landkreise­n bringen Verstorben­e ins Krematoriu­m Döbeln, erklärt Geschäftsf­ührer Gerold Münster

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