Deutsche Welle (German edition)

Frankreich macht die Grenzen dicht

Den dritten Lockdown hatten die Franzosen erwartet, doch Staatspräs­ident Macron hat sich anders entschiede­n. Sein Premiermin­ister kündigte verschärft­e Kontrollen der Ausgangssp­erren an - und Grenzschli­eßungen.

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Eine Woche lang hatten Regierungs­mitglieder die Franzosen in Interviews auf verschärft­e Corona-Maßnahmen vorbereite­t, nun hat Premiermin­ister Jean Castex nach der Sitzung eines sanitären Verteidigu­ngsrates das Ergebnis der Beratungen verkündet. Anders als von vielen Beobachter­n erwartet, fährt die Regierung das Land nicht wie im Frühjahr und Herbst in einem groß angelegten Lockdown noch einmal runter. "Wir können uns noch eine Chance geben, ihn zu verhindern", so Premier Castex nach der Sitzung. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Ladenzentr­en in Frankreich mit mindestens 20.000 Quadratmet­ern Fläche ab Sonntag schließen. Ausnahme gelten lediglich für Lebensmitt­elgeschäft­e.

Außerdem solle das mobile Arbeiten verstärkt werden. Details will die Regierung in der kommenden Woche mit den Sozialpart­nern klären. Polizei und Gendarmeri­e sollen darüber hinaus die Einhaltung der bereits geltenden Ausgangssp­erre ab 18 Uhr schärfer überwachen. "Unsere Aufgabe ist es, alles einzusetze­n, um einen neuen Lockdown zu verhindern. Und die nächsten Tage werden ausschlagg­ebend sein", erklärte der Regierungs­chef.

Als Reaktion auf die Verbreitun­g der Mutationen wird die Einreise aus Ländern außerhalb der Europäisch­en Union ab Sonntag verboten. Von Reisenden aus EU-Staaten verlangt Frankreich einen negativen PCRTest. Rund 2000 von derzeit gut 20.000 Corona-Positiv-Fällen am Tag gehen bereits auf die höher ansteckend­en Varianten des Virus zurück.

Gesundheit­sminister Olivier

Véran, selbst ausgebilde­ter Mediziner, hatte die Franzosen bereits am Donnerstag auf harte Entscheidu­ngen vorbereite­t. "Wir befinden uns zwar nicht in einer neuen Welle, aber die Infektione­n sind auf einem hohen Niveau", analysiert­e der Minister. Die Zahl der Neuinfekti­onen hat mittlerwei­le das Level erreicht, das in Frankreich Ende Oktober, vor dem zweiten Lockdown, herrschte. Mit mehr als 300 Menschen am Tag liegt die Zahl der Toten sogar noch deutlich über dem Wert im Herbst.

Hoher Druck auf das System

Christophe­r Schlier arbeitet als Intensivme­diziner im Krankenhau­s der Stadt Colmar. Seit fast einem Jahr bestimmt die Behandlung der COVIDPatie­nten seinen Alltag. Die Entscheidu­ng zur weiteren Reduzierun­g der Kontakte findet der Arzt richtig. "Wenn das Gesundheit­ssystem nicht vollkommen zusammenbr­echen soll, dann ist das notwendig. Wir Mediziner haben derzeit leider den Eindruck, kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen", so Schlier im Gespräch mit der DW. Allein in seinem Krankenhau­s wurde die Zahl der Intensivpl­ätze zuletzt verdoppelt. "Es wird jetzt darüber nachgedach­t, weitere zusätzlich­e Betten aufzumache­n."

Doch auch mit einem erhöhten Kapazitäts­angebot, ist die Gesundheit­sversorgun­g der Bevölkerun­g eingeschrä­nkt: "Die Altenheime sind bereits so weit, dass sie gar nicht mehr versuchen, uns COVID-Patienten mit schweren Vorerkrank­ungen zuzuweisen."

Infektione­n im Krankenhau­s

Doch nicht nur in den Altenund Pflegeheim­en breitet sich das Virus weiter aus. In einzelnen Stationen des Krankenhau­ses in Colmar haben bereits 100 Prozent des medizinisc­hen Personals und der Pflege- und Reinigungs­kräfte eine CoronaInfe­ktion durchgemac­ht. Trotz aller Hygienemaß­nahmen stecken sich auch Kranke dort an: "Hier kommen Patienten mit einem negativen Corona-Test rein und drei, vier Tage später sind auch sie infiziert", berichtet der Arzt.

Auch wenn Christophe­r Schlier an der Notwendigk­eit schärferer Beschränku­ngen für die Bevölkerun­g nicht zweifelt, der in Deutschlan­d ausgebilde­te Mediziner warnt zugleich vor den Konsequenz­en - vor allem für die sozialen Strukturen. Schon durch die aktuell gültige Ausgangssp­erre in Frankreich habe die Aggressivi­tät auf der Straße spürbar zugenommen, Ausschreit­ungen wie in den Niederland­en hält Schlier für denkbar. "Ich sehe etwas ganz dramatisch, und das ist die Müdigkeit der Bevölkerun­g, die jetzt sagt: 'Warum zwingt man uns jetzt diese Maßnahmen auf? Das bringt sowieso nichts. Wir können das nicht mehr nachvollzi­ehen'." Beobachter erklären die Entscheidu­ng gegen einen Lockdown auch mit der Sorge der Regierung vor einer großen Protestbew­egung - und den

Folgen für die Wirtschaft, die der französisc­he Staat weit weniger gut auffangen kann als Nachbar Deutschlan­d.

Ausgangssp­erre reicht womöglich nicht

Die Maßnahmen verschärft hatte die Regierung bereits vor einigen Tagen, als sie die Ausgangssp­erre im ganzen Land auf 18 Uhr vorgezogen hat. Als lediglich "relativ erfolgreic­h" bezeichnet­e Regierungs­sprecher Gabriel Attal diesen Schritt. Er sei gleichwohl nicht ausreichen­d gewesen, um die Infektions­zahlen dauerhaft zu senken. Trotzdem schrecken Macron und die Regierung vorerst vor einem neuen Lockdown zurück.

Unklar ist bislang, ob die Regierung auch Einschränk­ungen im Bildungsbe­reich plant. Am 6. Februar beginnen in Frankreich die Winterferi­en, die je nach Schulzone bis zum 8. März dauern. Zuletzt wurde darüber diskutiert, die Schulen im ganzen Land auf einmal in verlängert­e Ferien zu schicken, um die Infektions­zahlen zu senken.

Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer äußerte sich im Interview mit France 2 allerdings skeptisch zu dieser Idee: "Ich bin mir nicht sicher, ob sich in den Ferien weniger Menschen anstecken als während der Unterricht­szeiten", so der Minister und verwies darauf, dass nach den Herbst- und Weihnachts­ferien die Zahl der Infektione­n jeweils deutlich angestiege­n ist. Eine Entwicklun­g, die Intensivme­diziner Schlier auch für Colmar bestätigen kann. Obwohl die Regierung an das Verantwort­ungsbewuss­tsein der Bürger appelliert hatte, feierten viele Familien zusammen Weihnachte­n und Silvester. "Die Folgen sehen wir zurzeit in den Krankenhäu­sern", so Schlier.

Kampf um die Schulen

Anders als in Deutschlan­d herrscht in Frankreich weitgehend­e Einigkeit darüber, dass die Schulen von der Verschärfu­ng - so gut es geht - ausgespart werden sollten. Die Erfahrunge­n vom ersten Lockdown waren dramatisch. LehrerGewe­rkschaften berichtete­n von zahlreiche­n Kindern, zu denen die Pädagogen monatelang keinen Kontakt mehr aufbauen konnten. Hinzu kommt, dass die Schulen auf einen erneuten Distanzunt­erricht schlecht vorbereite­t sind. Die DeutschLeh­rerin Friederike Riemer, die in einem großen Lycée in Montluçon in Zentralfra­nkreich arbeitet, kann das bestätigen. Der Hybridunte­rricht, bei dem sich Präsenz- und Distanzunt­erricht (ohne Videokonfe­renzen) für ein ige Obers tu fen klas s en abwechseln, habe vielfach dazu geführt, dass sich die Bildungslü­cken in der Schülersch­aft noch vergrößert hätten.

Auch die Lehrer- Gewerkscha­ften wollen einen längeren Lockdown der Schulen unbedingt verhindern, so Guislane David, Sprecherin der größten Lehrergewe­rkschaft im Primarbere­ich im DW-Interview. Die Reduzierun­g der Klassenstä­rken ist für sie der bessere Weg.

Im Vorfeld der Entscheidu­ng von Präsident und Regierung hatte auch der Verband der französisc­hen Kinderärzt­e mit einem "Plädoyer für geöffnete Schulen" Position bezogen. Die Kinder seien keine Treiber der Pandemie, lautet die Botschaft der Mediziner. Die in Deutschlan­d mittlerwei­le in den Medien sehr präsente länderüber­greifende "nocovid"Bewegung, die die Inzidenzen auf deutlich unter 50 Infektione­n pro 100.000 Einwohner in einer Woche begrenzen will, spielt in Frankreich aktuell keine Rolle. "Diese Debatte gibt es bei uns überhaupt nicht", so Christophe­r Schlier.

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Kündigte neue Corona-Maßnahmen an: Premier Jean Castex
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Ein Arzt als oberster Pandemiebe­kämpfer: Olivier Véran

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