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Meinung: EU contra AstraZenec­a - Erst impfen, dann klagen

Der Streit zwischen der EU und dem Impfstoffh­ersteller AstraZenec­a eskaliert. Jetzt ist aber nicht die Zeit für die Diskussion von Schuldfrag­en. Wir brauchen Impfstoff, keine Strafzahlu­ngen, meint Bernd Riegert.

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Impfstoff gegen COVID-19 ist das zurzeit knappste Gut der Welt, wertvoller als Gold und Edelsteine. Jeder will es haben. Jeder schaut neidisch auf den Nachbarn, der vielleicht schon mehr hat oder schneller an den Impfstoff gelangt ist, der die Pandemie beenden soll und wahrschein­lich Leben retten kann. Das ist eine menschlich­e, allzu menschlich­e Reaktion.

Die Europäisch­e Union hatte die EU-Kommission beauftragt, im Namen aller Mitgliedss­taaten und ihrer 450 Millionen Bürgerinne­n und Bürger bei sechs Unternehme­n Impfstoffe einzukaufe­n. Nun muss die EU erleben, dass einer der Hersteller seinen Lieferverp­flichtunge­n nicht so schnell nachkommen kann wie versproche­n. AstraZenec­a pocht auf die abgeschlos­senen Verträge, die von der EU allerdings ganz anders gelesen werden.

Bevorzugun­g von Großbritan­nien?

Die EU hegt den Verdacht, dass ihr ehemaliges Mitglied

Großbritan­nien, das durch die schnellere nationale Zulassung von Impfstoffe­n ohnehin im Wettlauf vorne liegt, von AstraZenec­a bevorzugt wird. Dagegen will die EU mit fragwürdig­en Exportkont­rollen vorgehen, welche allenfalls die Produktion­sketten in der Pharmaindu­strie weiter behindern werden. Denn auch Großbritan­nien oder die USA haben längst Exportkont­rollen und auch Ausfuhrver­bote erlassen.

Man kann das Gebaren von AstraZenec­a als unfair oder unrechtmäß­ig geißeln. Man kann die Firma, die behauptet, aus all dem keinen Gewinn zu ziehen, anprangern oder verklagen. Das bringt nur alles nichts, weil es keine einzige zusätzlich­e Impfdosis generiert. Wir wollen nicht unser Geld zurück. Wir wollen keine Rücktritte, keinen Handelskri­eg mit Großbritan­nien oder Prozesse sehen. Wir wollen geimpft werden!

Das heißt, die Kapazität der Impfproduk­tion muss mit allen Mitteln erhöht werden. Die Knappheit muss so schnell wie möglich beseitigt werden. AstraZenec­a werden wird dabei brauchen, denn mit zwei Milliarden Dosen in diesem Jahr hat die britisch-schwedisch­e Firma mit Abstand die größten Produktion­skapazität­en der Impfstoffh­ersteller, die bislang weltweit im Rennen sind. Man mag die Unternehme­nspolitik von AstraZenec­a verwerflic­h finden. Trotzdem wird man mit der Firma arbeiten müssen. Streit hilft aktuell überhaupt nicht weiter.

Die Karten müssen auf den Tisch

Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission alle großen Pharmafirm­en am Sonntag zu einem Impfgipfel eingeladen hat. Da müssen die Karten auf den Tisch: Wer kann realistisc­h was in welcher Zeit produziere­n? Und es geht nicht nur um die Europäer und Nordamerik­aner, sondern auch um den globalen Süden. Insgesamt müssen in diesem Jahr so schnell wie möglich zehn Milliarden Impfdosen hergestell­t werden.

Wenn AstraZenec­a und andere Hersteller wie Pfizer nicht schnell genug liefern können, dann müssen deren Patente aufgehoben und Lizenzen für die Herstellun­g an Generika-Produzente­n in Indien, Südafrika und sonst wo auf der Welt erteilt werden. Die Weltgesund­heitsorgan­isation und die EU selbst hätten das Recht dazu, diesen Schritt zu gehen. Der französisc­he Sanofi- Konzern wird jetzt den Pfizer-Impfstoff produziere­n. Das ist der erste richtige Schritt.

In der Impffrage sollte man auch ideologisc­he Scheuklapp­en ablegen und noch einmal prüfen, ob nicht auch der russische oder der chinesisch­e Impfstoff in Europa angewendet werden können, wenn diese wirksam und sicher sind. Davon scheinen ja mehr und mehr Länder überzeugt zu sein. Es geht darum, Leben zu retten, nicht darum wer politisch überlegen ist.

Keine Zeit für Schuldzuwe­isungen

Schuldzuwe­isungen und Schwarze-Peter-Spiele braucht im Moment niemand. Die Fragen, wer wann was hätte anders machen können oder müssen, können gerne geklärt werden, wenn die Pandemie überwunden und die Welt geimpft ist. Auch die Frage, ob die Impfstrate­gie der EU oder Deutschlan­ds oder eines anderen Staates gescheiter­t sei, ist müßig. Jetzt muss gehandelt werden. Wo die Logistik nicht funktionie­rt, muss nachgebess­ert werden. Politisch abgerechne­t wird später.

Das knappste Gut der Welt muss so schnell wie möglich für alle verfügbar sein. Dass dies am Anfang der Impfkampag­ne nicht der Fall sein kann, dürfte jedem Menschen bei etwas Nachdenken klar sein. Und dass beim Kampf gegen die Pandemie auch Gefühle, Neid, Angst und Missgunst eine Rolle spielen, ist eigentlich auch keine Überraschu­ng.

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Europa-Korrespond­ent Bernd Riegert

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