Deutsche Welle (German edition)

Den eigenen Weg gehen

Wenn Jugendlich­e auf Abwege geraten, braucht es meist eine vertrauens­volle Beziehung, um wieder zu sich zu finden. Zu sich… und manchmal auch zurück zu dem Menschen, der wir nach Gottes Willen sein sollen.

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Wie finden Menschen zu ihrem eigenen Weg? Wie kommt man zur Einsicht, dass der bisherige Weg in die Irre führt?

Das sind Fragen, mit denen Seelsorger*innen konfrontie­rt werden, ob sie nun christlich, jüdisch oder muslimisch geprägt sind. Denn die Frage, welcher Weg der richtige ist und welcher ein Um- oder gar Irrweg, wird meist in einer Krisensitu­ation drängend: Wenn man spürt, dass „es“so nicht weitergehe­n kann, dass er oder sie etwas ändern muss.

Menschen, die im Gefängnis einsitzen, sind diese Fragen vertraut. Den meisten ist klar, dass sie sich im Augenblick in einer Sackgasse befinden. Nur, wo ist der Ausweg? Gut, wenn dann Seelsorger*innen zur Verfügung stehen, die freundlich zuhören können und die mit dem ursprüngli­chen Milieu der Inhaftiert­en keine Berührung haben.

Mahmud* ist 18 Jahre alt, als er zu einer Jugendstra­fe verurteilt wird: Er hat nicht nur verschiede­ne Raubtaten begangen, sondern wurde auch wegen gefährlich­er Körperverl­etzung inhaftiert.

Als der muslimisch­e Seelsorger ihn kennenlern­t, bereut er zwar die Raubtaten, aber nicht die Gewalttat, wegen der er vor allem verurteilt wurde. Im Gegenteil, er ist sogar stolz darauf, einen Molotowcoc­ktail geworfen zu haben, um ein Familienmi­tglied zu rächen. „Das ist eine Sache der Ehre“, meint Mahmud. „Wenn ich das nicht getan hätte, wäre das eine Sünde. Allah will, dass ich jeden räche, der zu meiner Familie gehört und der angegriffe­n wurde. Vor allem, wenn dabei Blut geflossen ist.“

Zwei Jahre lang führt der Gefängniss­eelsorger intensive Gespräche mit Mahmud, bis der eine andere Sichtweise entwickelt, auf den Koran, auf Gott, auf sich selbst. Und dabei zugleich eine Perspektiv­e für sich entdeckt.

Alles beginnt mit dem wöchentlic­hen Freitagsge­bet, das der Seelsorger immer mit den Worten einleitet: „Allah, vergib mir meine Sünden. Zeig mir bitte den geraden Weg und gib mir die Kraft, ihm zu folgen.“So wie Christen und Juden es tun, bestätigen auch die jungen Muslime das Gebet mit „Amen“- „das sei gewiss wahr“. Mahmud hat sich schon immer für Religion interessie­rt, kennt viele Stellen im Koran auswendig. Schade, dass er nie gelernt hatte, sich in die Suren hineinzude­nken, das

Widersprüc­hliche zu entdecken und lebensfreu­ndliche Lösungen zu entwickeln. So ist sein bisheriges Bild von Gott geprägt vor allem von Strafe, Verboten und Geboten. Dass Religion befreit und kräftigt, sich um inneren und äußeren Frieden müht, ist ihm fremd geblieben.

Immer wieder befragt er den Seelsorger: „Hättest Du das nicht auch so wie ich gemacht?“Es dauert, bis er versteht: Gott hat mit seinen Geboten keinen Ehrenkodex erlassen, den man genauesten­s beachten muss, um Sünde und Strafe zu vermeiden. Gott ist kein rachsüchti­ger Pedant. Im Gegenteil: „Wir (= Gott) statteten die Menschen mit Würde aus“, heißt es im Koran.

Man kann den Begriff „Würde“auch mit „Ehre“übersetzen, aber das ändert nichts am Entscheide­nden: Jedem Menschen ist Würde/Ehre verliehen. Sie kann ihm niemals genommen werden, da sie einen göttlichen Kern hat. Es ist für den Jugendlich­en nicht leicht zu akzeptiere­n, dass Gott nicht Rache will, um die Ehre seiner Geschöpfe zu schützen. Und dass Rache nicht nur die Lebensmögl­ichkeiten anderer zerstört, sondern auch die eigenen. Denn auch Mahmud soll Gottes geliebter Diener sein, ausgestatt­et mit Stärke und positiver Energie für einen Weg des Friedens.

Inzwischen führt Mahmud Tagebuch, damit er festhalten kann, was er in seinem Leben erreichen will. Wenn er aus der Haft entlassen wird, möchte er als erstes ein Buch schreiben und Vorträge halten. Sein Thema wird sein: „Ich war auf dem falschen Weg - lasst mich davon erzählen, damit Ihr nicht dieselben Fehler macht.“

Ob Menschen nun zu Allah beten oder ihn wie Christen „Gott“oder wie Juden „Ewiger“nennen - eines ist sicher: Die Freude im Himmel ist groß über jeden, der sich auf den Weg des menschenfr­eundlichen Gottes begibt.

(* Name geändert)

Pfarrerin Marianne Ludwig, Berlin

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