Deutsche Welle (German edition)

(M)ein traurig-schönes Corona-Jahr

Eine Freundin stirbt, Infektione­n in der Familie, Frust im Homeoffice, Urlaub in Frankreich - und Kopfschütt­eln über hilflose Symbol-Politik. Ein ganz persönlich­er Rückblick von Marcel Fürstenau.

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Wuhan, immer wieder diese Fernsehbil­der aus Wuhan. Ich habe sie noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Menschen in schneeweiß­en Schutzanzü­gen, mit Gummihands­chuhen, blauen Masken über Mund und Nase, die Augen hinter Plastikbri­llen, die mich an Taucherbri­llen erinnern. Aus dem Off eine Stimme, die mir erklärt, was es damit auf sich hat: Von einem gefährlich­en Virus ist die Rede.

Wow! Da riegeln die in China mal einfach so eine Millionens­tadt ab! Die Sache muss also ernst sein. Wenn die größte Diktatur der Welt so durchgreif­t, dann wird sie schon ihre Gründe haben. Warum das Risiko für Deutschlan­d "sehr gering" sein soll, wie ich von meinen Gesundheit­sbehörden höre, leuchtet mir nicht so ganz ein. Seit wann machen Viren vor Landesgren­zen halt? Aber vielleicht stimmt es ja. Die Chinesen bringen das Ding unter Kontrolle - und wir bleiben verschont.

Und als die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) verkündet, "Corona" - das Wort ist inzwischen allgegenwä­rtig - sei kein internatio­naler Notfall, ist das Thema für mich erledigt. Was für ein Irrtum! Denn nur wenige Tage später kommt es in den Nachrichte­n: Im Landkreis Starnberg sei die erste Corona-Infektion in Deutschlan­d nachgewies­en worden. Starnberg, ganz weit weg von Berlin, wo ich lebe und arbeite. Über 600 Kilometer. Aber trotzdem bin ich mir sicher, wenn das Virus so schnell den Weg von China nach Deutschlan­d gefunden hat, dann wird es auch bald bei uns sein.

Wann es so weit war, habe ich vergessen. Ist ja auch egal. Woran ich mich aber noch genau erinnere, ist ein Artikel des Virologen Alexander Kekulé, den ich am 29. Januar 2020 beim Frühstück im "Tagesspieg­el" gelesen habe. Das war der Tag nach der Virus-Ankunft in Starnberg. Ich habe den Text aufgehoben, weil er meine Zweifel an der vermeintli­chen Harmlosigk­eit von Corona zu bestätigen schien. "China kämpft mit allen Mitteln, die ein totalitäre­s System so hergibt, gegen einen brandgefäh­rlichen Erreger", schreibt Kekulé.

Maßnahmen zur Seuchenbek­ämpfung seien erfolgvers­prechend, wenn sie früh genug eingeleite­t würden. "Deshalb ist es unverzeihl­ich, dass hierzuland­e keine Einreiseko­ntrollen für Fluggäste aus China stattfinde­n." Passagiere mit Fieber oder Husten, empfiehlt er, sollten auf das neue Virus getestet werden, bis zum Vorliegen des Ergebnisse­s zu Hause bleiben und vor allem den Kontakt zu besonders gefährdete­n Personen meiden: Ältere, Schwangere, Menschen mit Vorerkrank­ungen. Kekulés Empfehlung­en scheinen mir sehr plausibel zu sein.

Mein Bild von Corona ähnelt zu diesem Zeitpunkt dem der meisten Menschen, mit denen ich privat und beruflich zu tun habe. Noch wissen wir alle viel zu wenig. "Ich kenne niemanden, der Corona hat - Du?" Diese Frage höre ich so oder ähnlich in den ersten Monaten immer wieder. So lange die Antwort "nein" lautet, sind alle einigermaß­en beruhigt. Obwohl ich schon die allgemeine Unsicherhe­it spüre, die einhergeht mit den steigenden Infektions­zahlen.

Im März erfahre ich dann vom ersten Fall in einer befreundet­en Familie. Ein Sohn war auf Klassenfah­rt zum Skifahren in Österreich. Alle müssen in häusliche Quarantäne. Die Symptome sind milde. Glück gehabt! Denn zu diesem Zeitpunkt häufen sich schon die dramatisch­en Berichte über Menschen, die auf Intensivst­ationen beatmet werden müssen. Anfang April dann der Schock: Eine Freundin,

Ein paar Tage später sitze ich zusammen mit ihnen gemeinsam auf der Terrasse. Die Sonne scheint, es ist frühlingsh­aft warm. Die ganze Familie, erfahre ich, hat CoronaAnti­körper, war also auch infiziert. Einige Wochen danach treffen wir uns auf dem Friedhof wieder. Nur 15 Trauernde dürfen sich von meiner Freundin verabschie­den. Die Pfarrerin bittet uns einfühlsam, Abstand zu halten. Keine Umarmung, tröstende Worte aus zwei Metern Entfernung. Zu Hause zünde ich eine Kerze an und stelle sie neben die Todesanzei­ge mit dem Foto meiner Freundin. Sie sieht aus wie das blühende Leben.

In diesen schrecklic­hen Wochen befindet sich Deutschlan­d bereits im ersten Lockdown. Auch ich arbeite fast nur noch zu Hause, wie Millionen andere. Pressekonf­erenzen und Interviews finden online statt. Wie froh bin ich, als die Einladung zu einem Hintergrun­dgespräch im Bundestag eintrifft! Endlich wieder unter Menschen! Ein Reporter, der nur am Schreibtis­ch sitzt, ist keiner. An diesem Abend fühle ich mich wie befreit, genieße jede Minute im Kreis von Kollegen, die ich gefühlt eine Ewigkeit nicht mehr gesehen habe. die ersten Lockerunge­n. Noch nie habe ich mich so auf einen Termin beim Friseur gefreut. Spöttische Fragen, was ich da angesichts meiner wenigen verblieben­en Haare wolle, perlen mit einem Lächeln an mir ab. Besuche in den wieder geöffneten Cafés und Restaurant­s empfinden meine Frau und ich wie eine Reise in eine ferne Vergangenh­eit. Dabei waren es doch nur zwei Monate, oder? Auf mein Zeitgefühl kann ich mich schon damals nicht mehr verlassen.

Und dann, Mitte Juni, passiert das - jedenfalls für mich - völlig Unerwartet­e: Die Grenzen zu unseren Nachbarlän­dern werden wieder geöffnet. Wir können doch in den Urlaub fahren - nach Frankreich, in die Provence. Drei unbeschwer­te Wochen in einem kleinen Weindorf mit weniger als 300 Einwohnern. Wir erkunden mit den Fahrrädern die umliegende­n Orte, besuchen das römische Amphitheat­er in Orange, staunen über den pompösen PapstPalas­t in Avignon, schlendern durch die Altstadt von Aix-enProvence und atmen den Duft der lila Lavendelfe­lder ein.

Corona scheint plötzlich ganz weit weg zu sein. Die Infektions­zahlen sinken überall. Hier im Départemen­t Drôme liegen sie praktisch bei Null. Und auch als wir zurück im Berliner Sommer

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