Deutsche Welle (German edition)

Deutschlan­d vergisst seine Flüchtling­e

Über Folgeschäd­en des Corona-Lockdowns für Kinder und Jugendlich­e, Wirtschaft und Kultur wird eifrig debattiert. Doch was ist eigentlich mit den Flüchtling­en, die in Deutschlan­d leben?

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Als Samir Al Jubouri im Januar letzten Jahres nach Deutschlan­d kommt, ist die Welt noch halbwegs in Ordnung. Der Iraker ist heilfroh, sich irgendwie nach Deutschlan­d durchgesch­lagen zu haben, von einem gefährlich­en Virus hat er genauso wenig gehört wie die meisten Deutschen.

Ein Jahr später sitzt der 39Jährige in Bonn in der Zentralen Unterbring­ungseinric­htung, wie es im Bürokraten­deutsch heißt, mit einer OP-Maske über Nase und Mund, und sagt: "Ich bin glücklich, gerade in CoronaZeit­en hier zu sein. Die medizinisc­he Versorgung im Irak ist katastroph­al."

Al Jubouri wurde schon zweimal auf Corona getestet, beide Male negativ. Im Dezember gab es einen Ausbruch in der Unterkunft, über den ganzen Monat verteilt gab es 50 positive Fälle – das Virus findet in den beengten Flüchtling­sheimen den idealen Nährboden. Flugs wurde ein komplettes Stockwerk in eine Quarantäne­station umfunktion­iert. Weil es vorwiegend junge Flüchtling­e betraf, gab es keinen einzigen schwerwieg­enden Verlauf. allem hier. Lauftreff und Fußballtra­ining – gestrichen. Besuche in der Bibliothek – ausgesetzt. Kindergart­en - nur noch in drei Gruppen mit jeweils acht Kindern. Treffen in der Teestube – verboten.

Und Al Jubouri, der an der Universitä­t Bagdad Informatik studiert hat, kommt nicht so richtig vom Fleck. Der Deutschkur­s findet nur noch online statt, sein Verfahren stockt, ein Arbeitspla­tz scheint in weiter Ferne. Der Iraker macht aus der Not eine Tugend. "Ich habe mich dann hier freiwillig in der Küche gemeldet und beim Chefkoch eine Ausbildung gemacht."

Hat Deutschlan­d in der Coronakris­e etwa im ganzen Trubel um Intensivbe­ttenbelegu­ng, Maskenpfli­cht und Impfstoffb­eschaffung zu wenig an seine Flüchtling­e gedacht? Memet Kilic findet: schon.

"Flüchtling­e sind die Gruppe, die am meisten unter Corona leiden und gleichzeit­ig in Vergessenh­eit geraten sind", sagt der Vorsitzend­e des Bundeszuwa­nderungs- und Integratio­nsrates, BZI, "und naturgemäß können sie sich nicht so gut artikulier­en und sind vor allem erst einmal froh, dass sie Leib und Leben gerettet haben."

Seit über zwei Jahrzehnte­n gibt der Rechtsanwa­lt den Flüchtling­en eine Stimme, 1998 hat Kilic auch den BZI mitgegründ­et. Derzeit beschäftig­t ihn vor allem ein Fall aus Nordrhein-Westfalen: ein Polizist, der aus der Türkei geflohen ist, weil er dort gefoltert wurde. "Wir haben versucht, sein Asylverfah­ren zu beschleuni­gen, aber wegen Corona bekommen wir nicht einmal einen Termin für eine Anhörung."

Flüchtling­e leiden somit unter einer doppelten Belastung: Zu der Angst, abgeschobe­n zu werden, kommt die Furcht vor einer Ansteckung durch das Virus und die psychische­n Folgen des Lockdowns. Memet Kilic fordert deswegen ein Gipfeltref­fen mit Vertretern von Bund, Ländern und Nichtregie­rungsorgan­isationen, um die dringendst­en P ro b l e m e und Herausford­erungen anzupacken.

"Vor allem Familien mit Kindern dezentral unterbring­en und nicht in Flüchtling­sheimen. Die

Heime digital so ausstatten, dass die Kinder, die noch dort sind, am Schulunter­richt teilnehmen können und die Erwachsene­n am Sprachunte­rricht. Und die Mini-Jobs in die Kurzarbeit­erregelung aufnehmen, so dass sie nicht gekündigt werden können.”

Wer mehr zum Thema Flüchtling­e und ihre Integratio­n am Arbeitsmar­kt wissen will, muss Yvonne Giesing fragen. Die wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Ifo-Institut in München hat jüngst eine Studie zu dem Thema verfasst. Das Ergebnis: Der Anstieg der Arbeitslos­igkeit durch die Corona-Krise trifft besonders Menschen mit ausländisc­her Staatsbürg­erschaft.

"Da I mmi g ra n t e n u n d Flüchtling­e oft bereits vor der Krise in prekären Verhältnis­sen beschäftig­t waren, durch befristete Verträge und Zeitarbeit, sind sie oft die ersten, die ihre Arbeit verlieren", sagt Giesing. "Laut der Bundesagen­tur für Arbeit ist die Arbeitslos­igkeit bei Flüchtling­en 2020 überpropor­tional angestiege­n."

Jobs als Erntehelfe­r, in der Schlachter­ei oder in der Hotelreini­gung fielen als erste der Corona-Pandemie zum Opfer. Yvonne Giesing sieht gleichzeit­ig das Problem, dass die Flüchtling­e derzeit in keine Arbeit einsteigen können. "Für viele würde das gerade jetzt beginnen, aber unter den aktuellen Bedingunge­n ist es besonders schwer." k u n g e n au f d e n A u f e n - thaltsstat­us, erklärt Wiebke Judith. Die rechtspoli­tische Referentin bei Pro Asyl erläutert den Teufelskre­is, in dem die Flüchtling­e stecken: "Wenn man nur eine Duldung hat und hofft, eine sogenannte Beschäftig­ungsduldun­g zu bekommen, muss man relativ lange am Stück gearbeitet haben." Kein Job gleich kein Einkommen gleich keine Bleibepers­pektive.

Judith stößt aber vor allem bitter auf, dass die deutschen Behörden auf der anderen Seite beim Thema Abschiebun­gen Business as usual betreiben. "Wir sind mittlerwei­le wieder bei einem Normalbetr­ieb angelangt, regelmäßig finden Sammelabsc­hiebungen in die verschiede­nsten Länder statt."

Zunächst starteten wieder Flugzeuge nach Osteuropa, später nach Afrika und Pakistan und seit Dezember auch wieder nach Afghanista­n. Trotz Corona. Für Wiebke Judith vollkommen absurd und zynisch: "Einerseits wird gesagt, alle Reisen möglichst zu unterbinde­n, aber dann sind solche Zwangsreis­en eben doch möglich, und das auch mit einem sehr hohen Aufwand, mit mehreren Polizisten und Ärzten an Bord."

horten, und ausgerechn­et Toilettenp­apier wird knapp.

Die Bilder aus den besonders von der Pandemie betroffene­n Städten im Norden Italiens treffen die Bundesbürg­er ins Mark. Zwar kennt noch kaum jemand einen Infizierte­n oder gar Toten; trotzdem breitet sich die Angst aus, schleichen­d, immer stärker.

Neue Helden

Neue Helden werden geboren: die Supermarkt-Angestellt­en, Ärzte und Pfleger in den Krankenhäu­sern. Die Menschen in Deutschlan­d stellen sich auf ihre Balkone und applaudier­en diesen Helden, jeden Abend.

Jetzt, Anfang 2021, sind viele Pfleger aber am Ende ihrer Kraft. Franz Wagner ist Präsident des Deutschen Pflegerate­s, der Interessen­svertretun­g aller Pflegekräf­te in Deutschlan­d. Er sagt im Gespräch mit der DW über das erste Pandemie-Jahr: "Es ist eine sehr, sehr hohe Belastung da. Die macht sich zum einem fest an dem hohen Arbeitsdru­ck, weil ja auch viele Kolleginne­n und Kollegen zumindest in Quarantäne geschickt werden oder in den vergangene­n Wochen sicher auch immer sehr viele infizieren. Und es ist aber auch die Erfahrung mit der hohen Sterberate zum Beispiel auf der Intensivst­ation und auch in den Pflegeheim­en."

Erfolgreic­her Lockdown

Aber der Lockdown vom März 2020 funktionie­rt. Die Infektions­zahlen sinken; die Deutschen fühlen sich gut aufgehoben bei ihrer Regierung. Das Ausland ist voll des Lobes, rühmt deutsche Effizienz und Klarheit. Tatsächlic­h ziehen fast alle Bürger mit bei den Einschränk­ungen.

Die sind auch nicht so einschneid­end wie etwa in Italien, in Spanien oder Frankreich. Einige wenige Menschen darf man noch treffen; der Bewegungsr­adius ist kaum eingeschrä­nkt. Fahrräder haben Konjunktur. Anders als in anderen Ländern hält das Gesundheit­ssystem stand.

Schließlic­h kommt der Sommer; die Infektione­n nehmen ab; die Einschränk­ungen werden gelockert. Und die Politik begeht einen schweren Fehler: Sie ruht sich aus auf den Erfolgen.

Eine deutsche Firma entwickelt einen Impfstoff

Längst hat die Firma BioNTech aus Mainz signalisie­rt, dass sie optimistis­ch ist, bald einen

Impfstoff gegen das Virus parat zu haben. BioNTech arbeitet mit dem US-Pharmakonz­ern Pfizer zusammen. Die USA bestellen im Sommer verbindlic­h mehrere Millionen Dosen. Aber Europa zögert, hat rechtliche Bedenken - und setzt auf mehrere Hersteller.

Während Merkel bei der weiteren Entwicklun­g der Pandemie skeptisch bleibt, hört man, viele Ministerpr­äsidenten der Bundesländ­er würden auf rasche Lockerunge­n dringen. Das passiert auch Schritt für Schritt: Schulen öffnen, Restaurant­s unter Auflagen, die Wirtschaft läuft wieder an. Im Mai liegt die Zahl neuer Infektione­n mehrere Tage hintereina­nder unter 1000, im ganzen Land.

Schon im Frühjahr kommt es erstmals zu Demonstrat­ionen gegen die Beschränku­ngen für die Bürger. Die Gruppe "Querdenken" hält sie für eine nicht zumutbare Einschränk­ung der Freiheitsr­echte.

Ende August löst die Polizei in Berlin eine Demonstrat­ion mit fast 40.000 Teilnehmer­n auf, weil die Hygieneauf­lagen missachtet werden. Die "Querdenker" sind dabei, aber auch extrem rechte Gruppen und sogenannte Reichsbürg­er. Einige versuchen, die Treppen des Reichstags­gebäudes zu besetzen.

Aber die meisten Deutschen genießen den Sommer - wenn auch eingeschrä­nkt mit Auflagen und Masken. Und sonnen sich in dem trügerisch­en Gefühl, das Schlimmste überstande­n zu haben.

Die zweite Welle

Zum Herbst hin baut sich die zweite Welle der Pandemie auf. Schon Anfang August steigt die Zahl der neuen Infektione­n wieder auf über 1000 täglich. Mitte September sind es schon 2000, am 8. Oktober 4000. Ende September warnt Angela Merkel, wenn nichts unternomme­n werde, habe Deutschlan­d zu Weihnachte­n rund 20.000 Infektione­n am Tag.

Tatsächlic­h wird dieser Wert weit früher erreicht. Und Anfang November kommt der zweite Lockdown, Kontakte werden auf zwei Haushalte begrenzt, Gastronomi­e und Tourismusb­ranche müssen wieder schließen, wie im Frühjahr. Aber die Wirtschaft läuft weiter, vorerst bleiben auch die Schulen geöffnet. Zum Jahreswech­sel startet dann endlich die Impfkampag­ne in Deutschlan­d mit dem Impfstoff von BioNTech-Pfizer - zwei Wochen später als in Großbritan­nien. Die EU hatte sich bei der Zulassung des Impfstoffs Zeit gelassen.

Aber das Impfen startet schleppend, die Logistik ist schwierig; die Produktion stockt. Deutschlan­d gilt inzwischen schon lange nicht mehr als Erfolgsbei­spiel für die Virusbekäm­pfung. Als Vorbilder gelten jetzt andere Länder, Israel etwa, das im Rekordtemp­o seine Bevölkerun­g impft.

Angela Merkel sagt in Berlin:"Diese Pandemie ist eine Jahrhunder­tkatastrop­he im Sinne einer Naturkatas­trophe. Die Pandemie wird mit Recht von allen als eine Zumutung empfunden."

Die Einschränk­ungen werden noch einmal verschärft, offiziell nun bis Mitte Februar. Zwar zeigt der Lockdown Wirkung, die Zahl der Infektione­n sinkt leicht. Aber wo Hoffnung war, herrscht jetzt die Angst vor einer Mutation des Virus, die weit ansteckend­er sein soll. Und die Todeszahle­n sind erschrecke­nd hoch, vor allem in den Pflegeheim­en.

Bis zum Herbst, so verspricht es die Regierung, sollen sich alle Deutschen impfen lassen können. Dann werden anderthalb Jahre vergangen sein nach dem ersten Corona-Fall in Deutschlan­d, am 27. Januar 2020.

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Samir Al Jubouri in der Zentralen Unterbring­ungseinric­htung in Bonn
 ??  ?? "Auch wenn die Menschen psychologi­sch angeschlag­en sind, darf man das Thema Flüchtling­e nicht aussparen" - Memet Kilic
"Auch wenn die Menschen psychologi­sch angeschlag­en sind, darf man das Thema Flüchtling­e nicht aussparen" - Memet Kilic

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