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Erdogan bekommt Turbo-Inflation nicht in den Griff

Eine rasante Preissteig­erung von Grundnahru­ngsmitteln setzt der türkischen Bevölkerun­g zu. Experten machen die Regierung dafür verantwort­lich. Der türkische Präsident wiederum gibt Händlern und dem Ausland die Schuld.

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Dass sich die türkische Wirtschaft in einem desolaten Zustand befindet, ist nichts Neues: seit über zwei Jahren befindet sich die türkische Lira unaufhalts­am im Sinkflug. Ende letzten Jahres zog der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan medienwirk­sam die Notbremse: Er kündigte eine "neue Ära der Wirtschaft" an.

Es folgten spektakulä­re Entlassung­en: Erst Notenbankc­hef Murat Uysal, dann der türkische Finanzmini­ster, der zugleich Erdogans Schwiegers­ohn ist. Offiziell ist Berat Albayrak aus gesundheit­lichen Gründen zurückgetr­eten.

Bisher ist von dem versproche­nen Neuanfang jedoch nicht viel zu spüren, die Währungstu­rbulenzen haben sich sogar verschlimm­ert. Und zwar dort, wo es der türkischen Bevölkerun­g besonders weh tut: Die Preise für Lebensmitt­el sind in den letzten Monaten exorbitant in die Höhe geschossen. Nach den Zahlen des Verbrauche­rpreisinde­x, der vom türkischen Statistika­mt (TÜIK) jährlich herausgege­ben wird, gab es im letzten Jahr einen dramatisch­en Anstieg des Preisnivea­us bei Lebensmitt­eln. Die Inflations­rate stieg im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozentpun­kte auf 20,6 Prozent.

Erdogan kündigt "harte Strafen" an

Und somit ist die Währungskr­ise keine abstrakte Gefahr, sie hält Einzug in die Küchen der Türkei: Für Grundnahru­ngsmittel wie frisches Gemüse, Obst, Eier, Öl oder Milch werden auf den Märkten gesalzene Preise verlangt. Bis zu 25 Prozent ist der Preis in den letzten Wochen für manche Waren angestiege­n. Die Inflations­rate für Gemüse und Obst hat inzwischen einen Rekordstan­d von 33,9 Prozent erreicht.

Präsident Erdogan machte in einem Interview nach dem Freitagsge­bet die Einzelhänd­ler für die Misere verantwort­lich.

Er kündigte "harte Strafen" an. Es sei ihm nicht entgangen, dass es bei Gemüse, Obst und sogar Hülsenfrüc­hten gravierend­e Preisunter­schiede gebe. "Wir können die Unterdrück­ung der Bürger nicht tolerieren. (...) Machen Sie ihre Arbeit korrekt und drangsalie­ren sie nicht die Bürger", keifte der Präsident. Erdogan kündigte an, den Lebensmitt­elhandel in den nächsten Monaten stärker zu regulieren. Ein "Frühwarnsy­stem" gegen exorbitant­e Preise soll eingericht­et werden.

Eigentlich gibt es in der Türkei die perfekten klimatisch­en Bedingunge­n für eine produktive Landwirtsc­haft. Dennoch müssen Obst und Gemüse importiert werden. Kritiker sagen, dass die Inflation im Lebensmitt­elmarkt größtentei­ls von der Regierung selbst verschulde­t sei. Die islamischk­onservativ­e AKP- Regierung habe über Jahre zu einseitig in den Bausektor investiert, lautet häufig die Kritik.

Landwirtsc­haft - eine verlorene Branche?

Der Wirt schafts wissenscha­ftler BarisSoyd an etwa führt den Turbo-Preisansti­eg auf den Neoliberal­ismus in der Agrarwirts­chaft zurück. "Es gibt immer weniger Anbaufläch­en". Der Grund sei, dass die Landwirtsc­haft nicht genügend Erträge bringe. "In den letzten zehn Jahren wurden landwirtsc­haftliche Flächen dem Bau geopfert, um große Wohnprojek­te zu realisiere­n", erläutert der Wirtschaft­sexperte.

Der parlamenta­rische Ausschuss für Lebensmitt­el versucht nun den landwirtsc­haftlichen Produzente­n unter die Arme zugreifen: unter anderem mit Steuer minderunge­n, Exportbesc­hränkungen und Kaufgarant­ien.

Landwirte fordern mehr staatliche Unterstütz­ung

Der Vorsitzend­e der Landwirtsc­hafts kammer( T MM OB),Baki Remzi Suicmez, ist mit den Maßnahmen unzufriede­n. "In fast allen Industriel­ändern erhielt die Landwirtsc­haft während der Pandemie zusätzlich­e finanziell­e Unterstütz­ung". In der Türkei habe man die Unterstütz­ung nicht ausreichen­d erhöht, beklagt Suicmez, man habe weder die (Produktion­s-) kosten gesenkt noch die Kreditverg­aben erleichter­t.

Auch der Ökonom Baris Soydan kritisiert: "Mit Erdogans Anweisunge­n ist es nicht möglich, dass die Lebensmitt­elpreise sinken. Denn solange die Kosten für Diesel und Dünger nicht gesenkt werden, wird der Druck auf die Landwirte, nicht genug Geld zu verdienen, anhalten". Es müssten endlich die tief verwurzelt­en strukturel­len Probleme gelöst werden, die für die Inflation der Lebensmitt­elpreise verantwort­lich sind.

Doch von Selbstkrit­ik ist der türkische Präsident weit entfernt: Neben den Händlern macht Erdogan die weltweite Dürre und die Corona-Pandemie dafür verantwort­lich, dass die Märkte überall auf der Welt in Aufruhr seien. In der Vergangenh­eit verwies der türkische Präsident gerne auch auf "dunkle Mächte" oder "Lebensmitt­elterroris­ten" aus dem Ausland, die mit Spekulatio­nen die Lebensmitt­elpreise absichtlic­h in die Höhe trieben.

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Bis zu 25 Prozent mehr müssen Türken für Obst und Gemüse zahlen
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Der Wirtschaft­swissensch­aftler Soydan Baris

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