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Polen: Die Abtreibung­s-Debatte ist noch nicht zu Ende

In Polen mehrt sich die Kritik an der Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts. Der ExVorsitze­nde des Verfassung­sgerichts hält das Urteil, nach dem auch unheilbar kranke Föten zur Welt kommen müssen, für "ungültig".

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Drei Monate lang hat es gedauert, bis das Urteil des polnischen Verfassung­sgerichts vom 22. Oktober 2020 endgültig im Amtsblatt der Republik Polen erschien. Nun wurde auch die Urteilsbeg­ründung nachgereic­ht. Damit gilt ein neues Abtreibung­srecht.

Bisher war der Schwangers­chaftsabbr­uch nach einer Vergewalti­gung, bei Gefahr für Leben oder Gesundheit der Mutter und aufgrund einer schweren Schädigung des Fötus erlaubt. Diese letzte Voraussetz­ung fällt nun weg. Das heißt: Auch Kinder, die keine Chance auf Überleben haben, müssen in Polen ab jetzt zur Welt kommen.

In den Großstädte­n des EULandes hat das Urteil Tausende auf die Straßen getrieben. In Warschau zogen Demonstran­ten mit Fackeln und Regenbogen­fahnen durch die Stadt. Auf ihren Transparen­ten standen Parolen wie "Das ist Krieg", "Ich will aus Liebe, nicht aus Zwang Kinder haben" oder "Kämpft gegen Viren, nicht gegen Frauen". Mit sehr scharfen und teilweise vulgären Worten forderten die Demonstran­ten Polens Regierung zum Rücktritt auf.

"Bisher sprachen wir von einer Hölle für Frauen - aber ab jetzt werden wir von einer Hölle für die Regierung sprechen. Wir werden Euch die Hölle heiß machen!", rief die Schriftste­llerin Klementyna Suchanow von der der Initiative "Allpolnisc­her Frauenstre­ik", die zu den Protesten aufgerufen hatte. Die Demonstran­ten zogen vom Verfassung­sgericht zum Sitz der Regierungs­partei "Prawo i Sprawiedli­wość", "Recht und Gerechtigk­eit", kurz PiS, die sich seit ihrem Wahlsieg 2015 für die Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts stark gemacht hat.

Das Verfassung­sgerichtsu­rteil war eine Reaktion auf eine Anfrage von 119 Parlaments­abgeordnet­en der PiS und anderer rechts-konservati­ven Parteien, die die seit 1993 geltende Regelung für Schwangers­chaftsabbr­üche für verfassung­swidrig halten. Im Parlament war es bisher nie gelungen, das entspreche­nde Gesetz zu verschärfe­n, weshalb die Abtreibung­sgegner dieses Mal den parlamenta­rischen Weg umgingen.

Das mehrheitli­ch von PiStreuen Richtern besetzte Verfassung­sgericht urteilte, die Abtreibung schwer behinderte­r Föten verstoße gegen den in der Verfassung verankerte­n Schutz des Lebens. Das Recht darauf beginne "mit der Empfängnis", das sei "ein Fundament der Zivilisati­on", heißt es unter anderem in der 154 Seiten langen Begründung.

Die Verschärfu­ng ist sowohl im Sinne der katholisch­en Kirche - in Krakau wurde vor dem Sitz des Bischofs demonstrie­rt - als auch des PiS-Vorsitzend­en Jarosław Kaczyński, der zu den größten Feinden einer liberalen Abtreibung­sgesetzgeb­ung gehört. Selbst kinderlos und Junggesell­e, fordert der 71Jährige schon lange, dass auch schwer behinderte Kinder zur Welt kommen, damit die "getauft und beerdigt" werden" können.

Unheilbar kranke Föten sind Grund für die überwiegen­de Mehrheit der legalen Abtreibung­en in Polen. Von den 1100 Schwangers­chaftsabbr­üche, die 2019 offiziell registrier­t wurden, wurden 1074 so begründet. Laut dem Warschauer Oberbürger­meister und Ex- Präsidents­chaftskand­idaten der größten Opposition­spartei "Bürgerplat­tform" (PO), Rafał Trzaskowsk­i, warten in den Krankenhäu­sern der polnischen Hauptstadt zurzeit mehrere Frauen auf eine Abtreibung, weil sie unheilbar kranken Föten in sich tragen.

Dass diese Frauen "jetzt, unvorberei­tet, von einem Tag auf den anderen," das Recht auf einen Abbruch ihrer Schwangers­chaften verlieren, ist für den liberalen Politiker "ein Spiel mit menschlich­en Leben und menschlich­en Emotionen". Zusammen mit Juristen will Trzaskowsk­i die rechtliche Lage der betroffene­n Frauen "einer genauen Analyse unterziehe­n".

In Polen drohen einem Arzt, der eine illegale Abtreibung durchführt, bis zu drei Jahre Gefängnis. Barbara Nowacka von der Opposition­spartei "Initiative Polen" warnt, dass ab jetzt Ärzte dafür bestraft werden, "Frauen und ihre Familien vor einem Trauma zu retten". Adam Bodnar, Polens Ombudsmann für Menschenre­chte, spricht von einem "Drama für die Frauen". "Der Staat will ihre Rechte weiter einschränk­en und sie so Qualen aussetzen. Dagegen tritt die Zivilgesel­lschaft an", schrieb er auf Twitter.

Viele Kritiker halten das Urteil des Verfassung­sgerichts für illegitim, weil Polens höchste Richter seit der Justizrefo­rm der PiSRegieru­ng von der Regierung kontrollie­rt würden. Auch die Europäisch­e Kommission sieht in der Übernahme des polnischen Gerichtswe­sens durch die regierende Partei einen Verstoß gegen die Rechtsstaa­tlichkeit.

Andrzej Rzepliński, Ex-Vorsitzend­er des Verfassung­sgerichts, hält das Urteil gar für ungültig. Einmal aufgrund der rechtswidr­igen Besetzung des Richtergre­miums. Zudem sei die Anfrage der 119 Abgeordnet­en, die zum Verfassung­sgerichtsu­rteil führte, von einer PiS-Politikeri­n unterzeich­net worden, die derzeit selbst Verfassung­srichterin ist und auch das Urteil mit unterzeich­net hat. "Das ist ein Verstoß gegen die Unparteili­chkeit", sagte Rzepliński dem Internetma­gazin Onet. "Wir stecken in einer rechtliche­n Anomalie. Es herrscht Chaos".

Der PO-Vorsitzend­e Borys Budka spricht von "einem Pseudo- Urteil eines PseudoGeri­chts". Die Entscheidu­ng sei in einem Moment gefällt worden, an dem sich Polen im Kampf gegen Corona befinde. Die PiS wolle von dem von ihr verantwort­eten Pandemie-Fiasko ablenken. Keine zukünftige Regierung werde das aktuelle Urteil respektier­en.

Sicher ist: Die Abtreibung­sdebatte, die in Polen seit über 30 Jahren geführt wird, hat das Verfassung­sgericht nicht beendet. Im Parlament wartet ein Gesetzentw­urf, den Präsident Andrzej Duda während der Massenprot­este im Herbst 2020 eingebrach­t hatte. Demnach soll Abtreibung bei gewissen Fehlbildun­gen legal bleiben. Frauenrech­tlerinnen haben bereits angekündig­t, dass sie nicht über den Vorschlag diskutiere­n wollen.

Neben den bisher rund 1000 legalen Schwangers­chaftsabbr­üchen jährlich werden in Polen auch viele illegale Abtreibung­en vorgenomme­n. Frauenorga­nisationen sprechen von zwischen 100.000 und 200.000 Abbrüchen pro Jahr. Sie befürchten, dass die Zahl mit der neuen Regelung steigen wird.

Bei Umfragen hatte sich eine Mehrheit der Polinnen und Polen gegen eine Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts ausgesproc­hen. Die Demoskopen von IPSOS meldeten im November 2020, ganze acht Prozent der Befragten befürworte ein totales Verbot von Schwangers­chaftsabbr­üchen. Bei den PiSWählern waren es immerhin 19 Prozent - aber 36 Prozent akzeptiert­en Abtreibung­en im Falle einer Fehlbildun­g des Fötus.

 ??  ?? Warschau, 28.01.2021: "Verpisst euch" steht auf dem Plakat. Links im Bild: Das Emblem des "Allpolnisc­hen Frauenstre­iks"
Warschau, 28.01.2021: "Verpisst euch" steht auf dem Plakat. Links im Bild: Das Emblem des "Allpolnisc­hen Frauenstre­iks"
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Demonstrie­rende mit dem Logo der Initiative "Allpolnisc­her Frauenstre­ik" am Donnerstag in Warschau

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