Deutsche Welle (German edition)

Der Impfstoff-Krieg

Belgien hat Inspekteur­e in die AstraZenec­a Produktion­sstätte in Seneffe geschickt. Die EU will herausfind­en, ob es wirklich Produktion­sprobleme gibt. Unterdesse­n verschärft sich der Streit zwischen Brüssel und London.

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Das belgische Gesundheit­sministeri­um hat am Donnerstag Pharmaexpe­rten in den Ort Seneffe geschickt, wo in einer Fabrik des französisc­hen Pharmahers­tellers Novasep COVID-19-Impfstoff im Auftrag von AstraZenec­a produziert wird. Sie entnahmen Proben, sicherten Daten und verspreche­n einen Ergebnisbe­richt in wenigen Tagen.

Die Untersuchu­ng soll klären, ob es in Seneffe tatsächlic­h die Produktion­sprobleme gibt, die AstraZenec­a als Begründung nutzt, um die Liefermeng­e in Europa um drei Viertel zu kürzen. Die belgischen Fachleute arbeiten bei der Auswertung mit

Experten aus den Niederland­en, Italien und Spanien zusammen. Man habe auf Bitten der EU-Kommission gehandelt, sagte ein Ministeriu­mssprecher in Brüssel dazu.

Die Inspektion bei dem belgischen Pharmahers­teller macht deutlich, dass die EUKommissi­on AstraZenec­a nicht mehr glaubt. Seit dem Interview von CEO Pascal Soriot mit mehreren europäisch­en Tageszeitu­ngen, in dem er vertraglic­he Lieferpfli­chten gegenüber der EU leugnete, wird

der Ton immer schärfer. Der Streit geht darum, ob Impfstoff aus EU-Fabriken auf die britische Insel geliefert wurde oder ob die Dosen für Großbritan­nien gekürzt werden müssten, um Europa gleichrang­ig zu beliefern.

In London lehnte Kabinettsm­inister Michael Gove im Interview mit der BBC diese Möglichkei­t ausdrückli­ch ab: "Nein, wir müssen sicherstel­len, dass der vereinbart­e Zeitplan, auf dem unser Impfprogra­mm basiert, wie geplant umgesetzt wird." Impfstoff könne nicht weitergele­itet werden und man müsse damit warten, anderen Ländern zu helfen. Die Boulevardp­resse wiederum sieht die Sache eindeutig: "Nein, die EU kann unsere Impfungen nicht haben", schreibt die Daily Mail. Und im Daily Express heißt es: "Wartet bis ihr dran seid! Egoistisch­e EU will unseren Impfstoff."

Beide Seiten gehen offensicht­lich von unterschie­dlichen Tatsachen aus. Die britische Regierung behauptet, sie habe eine Art Erst-Lieferungs­recht, weil sie den Vertrag mit AstraZenec­a früher als die EU abgeschlos­sen hat. Brüssel wiederum erklärt, in ihrem Vertrag mit dem Pharmakonz­ern seien klare Liefermeng­en und Daten enthalten. Diese Verpflicht­ungen müssen eingehalte­n werden, unabhängig davon, was das Unternehme­n Dritten zugesagt hat.

D i e D e u t u n g s p ro b l eme ließen sich leicht aufklären, wenn endlich der Vertrag zwischen AstraZenec­a und der EU veröffentl­icht würde. Man habe den Konzern dazu aufgeforde­rt, sagte Kommission­sprecher Eric Mamer heute: "Unsere Absicht ist, ihn zu veröffentl­ichen." Die Frage ist, warum die Behörde es nicht einfach tut, denn CEO Pascal Soriot hat bereits seinerseit­s die Vertraulic­hkeitsvere­inbarungen gebrochen.

Gleichzeit­ig soll schon morgen durch die EU- Mitgliedsl­änder ein neuer Transparen­zmechanism­us beschlosse­n werden, eine Art Exportkont­rolle für Impfstoff. "Wir kommentier­en nicht, ob Impfstoff aus der EU nach Großbritan­nien geliefert wurde. Wir installier­en einen (Kontroll-) Mechanismu­s und niemand sollte bezweifeln, dass wir diese Informatio­nen bekommen können", erklärte Mamer.

Zunächst soll beobachtet werden, ob Impfstoff exportiert wird. Angesichts der Situation auch mit Nachbarlän­dern brauche man Klarheit, erklärten EU-Beamte. Der Mechanismu­s enthält kein generelles Exportverb­ot, eröffnet aber der Kommission wie auch den Mitgliedsl­ändern die Möglichkei­t dazu. Man schulde den Steuerzahl­ern in Europa Transparen­z, weil die EU massiv in die Vorkaufsve­reinbarung­en investiert habe. Wenn ein Unternehme­n mehrere Verträge parallel unterschri­eben habe, gehe es nicht darum, wer zuerst bedient werde. Es sei vielmehr Aufgabe des Konzerns, alle Lieferunge­n zu erfüllen.

Unterdesse­n wächst der Druck auf die EU- Kommission: Bundesinne­nminister Horst Seehofer erklärte jetzt, die Bestellung von Impfstoff hätte "offensiver und in größerem Umfang" geschehen sollen. Und sein Kollege, Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn, kündigt einen gesonderte­n Impfgipfel der deutschen Regierung mit Vertretern der Pharmaindu­strie an. Zur Situation mit AstraZenec­a und dem Streit mit Großbritan­nien sagt er: "Es kann auch in der Produktion Rückschläg­e geben", aber Probleme würden entstehen, wenn der Eindruck da sei, dass nicht alle (Abnehmer) gleichzeit­ig betroffen sind.

Was die Produktion angeht, so bekommt Brüssel Schützenhi­lfe von der Weltgesund­heitsorgan­isation. Der Impfstoffe­xperte der WHO für Europa erklärt, dass es i mmer "Anfangspro­bleme bei Impfstoffp­roduktion und Impfkampag­nen" gebe. Siddhartha Datta fügt hinzu: "Niemand kann den gesamten

Impfstoff in dieser Größenordn­ung allein herstellen." Und der europäisch­e Leiter der WHO, Dr. Hans Kluge, berichtet von heiß laufenden Telefonlei­tungen. Er habe mit dem EU- Ratspräsid­enten und der Gesundheit­skommissar­in gesprochen, aber "die Realität ist, dass es für eine längere Zeit einen Mangel an Impfstoff geben wird".

Der liberale MEP Andreas Glück wiederum fordert Einsicht in die Verträge: "Wenn die EUKommissi­on womöglich etwas verschlafe­n hat, dann müssen wir dem nachgehen." Er sei nicht gegen die gemeinsame Beschaffun­g von Impfstoff, sondern wolle feststelle­n können, "ob die EU-Kommission schlecht verhandelt hat oder AstraZenec­a seiner Zusage nicht nachkommt."

EU Ratspräsid­ent Charles Michel veröffentl­ichte jetzt einen Brief an eine Reihe von Mitgliedsl­ändern, der handfeste Drohungen gegenüber der Pharmaindu­strie enthält: Wenn die Konflikte nicht durch Verhandlun­gen gelöst werden könnten, werde die EU "alle rechtliche­n Schritte und Maßnahmen zur Durchsetzu­ng ergreifen, die ihr nach dem Krisenmech­anismus der EU-Verträge zur Verfügung stehen". Dadurch würden die Mitgliedss­taaten die rechtliche Möglichkei­t erhalten, durch Notmaßnahm­en die effektive Impfstoffp­roduktion und die Versorgung ihrer Bürger zu sichern.

Das scheint auf die Erteilung von Zwangslize­nzen zu deuten, ein Weg, den eine Reihe von EUAbgeordn­eten zunehmend unterstütz­en. Der belgische Abgeordnet­e Marc Botenga sieht dafür zwei Wege. Zum einen könne man die Weitergabe der Rechte über die Weltgesund­heitsorgan­isation beantragen, zum anderen über die Welthandel­sorganisat­ion. Dort liege bereits ein entspreche­nder Antrag von Südafrika und Indien vor. Wenn die EU mit beiden Ländern eine Koalition eingehen würde, könnte ein solcher Antrag politische­s Gewicht bekommen.

Es sei die konservati­ve Idee von der Unantastba­rkeit geistigen Eigentums, die die Kommission bisher von solchen Schritten abgehalten hätte, so Botenga. "In einer solchen Krise wie dieser Pandemie muss man unkonventi­onell denken", plädiert er. Schließlic­h habe die EU durch ihre finanziell­e Unterstütz­ung das Risiko für die Entwicklun­g der Impfstoffe weitgehend übernommen und damit die Pharmakonz­erne entlastet. Deswegen sei es nur richtig, wenn sie jetzt die Rechte teilten.

Würden solche Lizenzen erteilt, könnten weitere Impfstoffh­ersteller in die Produktion einbezogen und die Herstellun­g internatio­nal beschleuni­gt werden. Und schließlic­h solle die EU die Rechte am geistigen Eigentum nicht dauerhaft aushebeln. "Die Pandemie ist eine Ausnahme." Und wenn sich genug große Mitgliedsl­änder verbündete­n, ließen sich die gegenwärti­gen Probleme lösen.

war die Bürgermeis­terwahl in Moskau 2013. Er bekam fast ein Drittel der Stimmen und wurde zweiter. Seitdem ist ihm der legale Weg in die Politik versperrt. Seine Partei wurde nicht registrier­t und wegen Verurteilu­ngen wegen Wirtschaft­sverbreche­n darf er selbst bei Wahlen nicht mehr antreten. So scheiterte 2018 seine Bewerbung um die Präsidents­chaft. Nawalny sieht den Kreml dahinter. Er nutzte aber diese Wahl, um ein Netzwerk aufzubauen. Das zahlt sich jetzt aus. In der Provinz gehen mal Hunderte, mal Tausende für seine Freilassun­g auf die Straßen. Das ist neu.

Eine Mischung aus Mitleid und Misstrauen

Meinungsfo­rscher wie Lew Gudkow sind jedoch skeptisch, ob Nawalny eine große Protestbew­egung auslösen kann. "Die Einstellun­g zu ihm ist komplizier­t und hängt vom Alter und Informatio­nskanal ab", sagte der Direktor des renommiert­en Moskauer Lewada-Zentrums in einem DW- Gespräch. "Die Jugend, die in sozialen Netzwerken aktiv ist, reagiert viel stärker und empathisch auf Nachrichte­n über einen versuchten politische­n Mord."

Rund 40 Prozent junger Russen glauben daran. Bei älteren Menschen in der Provinz, die auf staatliche­s Fernsehen angewiesen sind, sind es nur fünf Prozent. Dort wirke "die Kreml-Propaganda", so Gudkow. Die Vergiftung Nawalnys werde bestritten oder als Provokatio­n westlicher Geheimdien­ste gedeutet. Der Opposition­spolitiker wird in Staatsmedi­en stets als Kriminelle­r dargestell­t.

Vor diesem Hintergrun­d wundert es nicht, dass in einer Umfrage des Lewada-Zentrums im November 2020, drei Monate nach seiner Vergiftung, nur zwei Prozent der Russen für Nawalny als potenziell­en Präsidents­chaftskand­idaten stimmen wollten. Dieser Wert ist seit Jahren stabil.

Warum viele Russen bei Protesten zurückhalt­end sind

In seinen Enthüllung­svideos, oft gespickt mit ironischer Jugendspra­che, appelliert Nawalny vor allem an junge Russen. Doch seine Botschafte­n wirken am stärksten nicht etwa bei Schülern, die Videos mit und über ihn etwa bei TikTok gerne teilen, sagt Gudkow.

"Die jüngeren schauen sich seine Videos an und bleiben passiv. Es reagieren diejenigen, die bereits Lebenserfa­hrung haben, Menschen zwischen 25 und 40 Jahren", sagt der Soziologe. Es seien Russen aus der Mittelschi­cht vor allem in den Großstädte­n, die die wirtschaft­liche Stagnation in Russland mit Putins Politik in Verbindung bringen, so seine Erklärung.

Ähnlich sieht es der österreich­ische Russland-Experte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck. "Nicht jeder, der am Samstag (23.1.) auf der Straße war, hat für Nawalny demonstrie­rt, nicht jeder der Demonstran­ten würde Nawalny beispielsw­eise bei einer Präsidente­nwahl wählen, aber es war eine große Zahl von Bürgern und Bürgerinne­n, die frustriert sind über die wirtschaft­liche Rezession, den mangelnden Aufschwung, den Niedergang der Reallöhne, die politische

Korruption, die Korruption im Alltag“, so Mangott gegenüber DW.

Breite Massen bei Protesten erwartet Gudkow nicht. Zum einen sei die Wirtschaft­slage in Russland noch relativ gut und kein Vergleich etwa zur Nachbarrep­ublik Belarus, wo die Demonstrat­ionen gegen den Präsidente­n seit Monaten andauern. Zum anderen gebe es keine Opferberei­tschaft - anders als bei Nawalny selbst, der trotz drohender Verhaftung nach Russland zurückkehr­te. "Die Bewunderun­g für Nawalny wird steigen", sagt Gudkow. "Dazu mischt sich das Gefühl, er sei zwar etwas Besonderes, "ein Recke", doch wir sind es nicht. Wir bewundern ihn, würden ihm aber nicht folgen." Das sei Konformism­us, ein Erbe der Sowjet-Zeit.

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AstraZenec­a solle die vereinbart­en Liefermeng­en einhalten - fordert die EU

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