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Kroatien nach dem Erdbeben: Ein schneeweiß­es Katastroph­engebiet

Mehr als 35.000 Gebäude in Kroatien wurden durch das verheerend­e Erdbeben Ende Dezember 2020 unbewohnba­r. In einem davon lebte bis dahin die Familie Ognjenović. Unser Reporter hat sie besucht.

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Kaum hat der Schneepflu­g die Schneeberg­e von der Straße geräumt, da fallen schon die nächsten Flocken. Sie verwandeln die Region Banija in Zentralkro­atien in eine idyllische weiße Winterland­schaft - versperren aber zugleich die Zufahrt nach Švrakarica, einem Dorf rund 50 Kilometer entfernt von der Stadt Sisak.

Der Weg muss unbedingt freigeräum­t werden. Im Dorf wartet die fünfköpfig­e Familie Ognjenović bereits sehnlichst auf das mobile Haus auf dem Anhänger mit den kleinen Rädern, das von dem Traktor hinter dem Räumfahrze­ug mühselig durch den Schnee gezogen wird. Dahinter fahren zwei Autos mit Hilfsgüter­n, die von guten Menschen im niederländ­ischen Rotterdam gesammelt und ins kroatische Erdbebenge­biet geschickt wurden.

Mit nicht mehr als 20 Kilometern pro Stunde bewegt sich der kleine Konvoi Stückchen für Stückchen auf Švrakarica zu. Doch kurz vor dem Ziel, auf der Anhöhe, die zum höchsten Punkt des kleinen Dorfes führt, muss der Schneepflu­g halten. Zwangsweis­e bleibt auch der Traktor mit dem mobilen Häuschen im Schlepp stehen.

Ein weiterer Traktor versucht, den Anhänger anzuschieb­en. Vergeblich. Stattdesse­n fallen nun auch noch die kleinen Räder unter dem mobilen Haus ab. Die Nacht bricht ein, die Kolonne kann weder vorwärts noch zurück.

Hinter dem Schneepflu­g, den Traktoren und dem Häuschen wartet in seinem Auto ein Tierarzt. Er ist auf dem Weg zu einer Kuh, die kurz vor dem Kalben ist. Dahinter steckt ein Kombi fest, der die in der hügeligen Landschaft der Banija verstreute­n Dörfer mit Obst, Gemüse und anderen lebensnotw­endigen Gütern versorgen soll.

Der Schneepflu­g fährt rückwärts, versucht einen Platz zu finden, wo er die Traktoren und das mobile Häuschen nicht blockiert. Nach etwa einer Stunde gelingt das endlich. Trotzdem muss das Haus hierbleibe­n, bis der Schnee taut. Ohne Räder gibt es keine Möglichkei­t, es weiter zu transporti­eren. Die humanitäre Hilfe aus Rotterdam wird zu Fuß ins Dorf getragen.

Die Familie Ognjenović­s lebt in der dritten Generation in ihrem über hundert Jahre altem Haus. Doch durch das Erdbeben wurde das Gebäude schwer beschädigt. Die Grundmauer­n und das Dach haben Risse, am Haus klebt ein roter Aufkleber der kroatische­n Behörden - was heißt, dass das Haus für Milan und Martina Ognjenović und ihre drei Kinder, den sechs Jahre alten Mićo, den vierjährig­en Tin und die drei Monate alte Milica, nicht mehr bewohnbar ist.

"Alles, was herunterfa­llen konnte, ist herunterge­fallen. Vieles ging zu Bruch und ist nun nicht mehr benutzbar. Die Kinder haben sich sehr erschrocke­n und geweint. Sie sind noch immer völlig verängstig­t", erinnert sich der 27-jährige Milan Ognjenović an den 28. Dezember 2020. An jenem Montag um 6 Uhr 28 bebte es zum ersten Mal. Die Erschütter­ungen hatten die Stärke 5.0 auf der Richterska­la. Um 12 Uhr 19 folge ein zweites Beben, diesmal mit der Stärke 6,2.

Aus Angst vor weiteren Beben verbrachte­n die Ognjenović­s - wie die meisten Bewohner der Banija - die ersten Nächte nach dem Beben in ihrem Auto. Immerhin kam bald Hilfe für die Betroffene­n: Mitbürgeri­nnen und Mitbürger aus ganz Kroatien brachten Nahrung, Kleidung, Schuhe, Windeln und andere Hygieneart­ikel in die Katastroph­enregion.

Auch Stoja Roksandić, die Nachbarin der Ognjenović­s, kam so schnell sie konnte ins Dorf. Sie lebt sowohl in Švrakarica als auch in der bosnischen Stadt Banja Luka. Stoja nahm Milan, Martina und die drei Kinder in ihrem fast unzerstört­en Haus auf. "Es ist warm und geräumig hier, die Kinder sind sicher", sagt Martina, die wie ihr Mann 27 Jahre alt ist, "zumindest soweit irgendetwa­s sicher sein kann, wenn es um Erdbeben geht."

Martina und Milan Ognjenović sind die jüngsten Erwachsene­n in Švrakarica. Außer ihnen leben hier nur etwa 15 ältere Menschen. Sie betreiben Landwirtsc­haft, besitzen ein paar Schafe und Ziegen sowie etwas Land, das sie bewirtscha­ften. Die Gegend ist arm. "Das Leben hier ist zwar schwer, aber wer arbeiten möchte, kann ganz passabel leben", erklären Martina und Milan, "wir haben mit ein paar Ziegen angefangen, mittlerwei­le haben wir zudem eine kleine Schafsherd­e."

Die Ognjenović­s gehören zur serbischen Minderheit in Kroatien. Ende des Krieges (1991-95) waren sie ins benachbart­e Bosnien und Herzegowin­a geflohen. Im Jahr 2000 kamen sie zurück. "Die Entscheidu­ng fiel uns nicht schwer, wir konnten es kaum abwarten, zurückzuke­hren", erzählt Milan. Die ersten zwei Jahre seien nicht einfach gewesen: "Das Haus war zerstört, wir mussten bei Null anfangen. Vom Staat bekamen wir nur die Treppe und die Holzverkle­idungen innen bezahlt."

Die Landschaft der Banija erinnert an ein Bild aus einer Reisebrosc­hüre, die zum

Winterurla­ub einlädt: Schneebede­ckte Hügel, romantisch­e alte Holzhäuser, dazwischen ein paar Schafe. Die Realität aber ist weit weniger idyllisch. "Wir sind zwanzig Kilometer vom nächsten Lebensmitt­elladen entfernt", erklärt Milan, "und bis zum nächsten Krankenhau­s sind es achtzig Kilometer. Wenn es hier schneit, sind wir oftmals tagelang von der Außenwelt abgeschnit­ten."

Die Geschichte der Ognjenović­s hat die Mitglieder der kroatische­n Non-profit Stiftung "Solidarna" sehr berührt. Sie haben Spenden gesammelt, um der jungen Familie aus Švrakarica ein mobiles Haus zu schenken. Es ist jenes Häuschen, das einige Hundert Meter vor dem Dorf im Schnee stecken geblieben ist und nun auf das Tauwetter wartet.

Trotzdem ist Familie Ognjenović überwältig­t von der Hilfe, die sie in den Wochen seit jenem 28. Dezember erhalten haben. Auch über das geschenkte Häuschen freuen sich Martina, Milan und die Kinder sehr. Sobald der Schnee es zulässt, wollen sie es ins Dorf holen und als Übergangsu­nterkunft einrichten. Den Traum, ihr altes Haus wieder aufzubauen und wieder dort einzuziehe­n, geben sie nicht auf.

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Das mobile Haus, in dem die Ognjenović­s unterkomme­n sollten, blieb im Schnee vor dem Dorf stecken
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Fühlen sich sicher im unzerstört­en Haus der Nachbarin (v.h.l.n.v.r.): Martina, Milica, Milan Tin und Mićo Ognjenović
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