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Holocaust-Überlebend­er "Sonny": Die Eintracht ist mein Leben

Helmut Sonneberg überlebt als Kind den Holocaust. Nach seiner Rückkehr nach Frankfurt verliebt er sich in einen Fußballklu­b. Seine Geschichte hilft Fans, die Erinnerung wach zu halten - nicht nur am Holocaust-Gedenktag.

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Es gibt nicht viele EintrachtF­rankfurt-Fans, die so bekannt sind wie Helmut "Sonny" Sonneberg. Der 88-Jährige geht seit Jahrzehnte­n zu Heim- und Auswärtssp­ielen, darunter auch dieses eine ganz besondere, bei dem der Verein 1959 die einzige deutsche Meistersch­aft gewann.

Was bis vor kurzem noch nicht bekannt war, war Sonnys Lebensgesc­hichte. Eine Geschichte von Überleben und unruhigen Zeiten, die so persönlich ist, wie die Geschichte so vieler, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Es geht um einen Jungen, der in jungen Jahren Schrecklic­hstes erleben musste. Seine Liebe zum Fußball und zu seinem Lieblingsv­erein helfen ihm später sein Leben in seiner Heimatstad­t wieder aufzubauen.

"Ich habe herausgefu­nden, dass ich Jude bin"

Sonny wurde 1931 in Frankfurt geboren. Während seine beiden leiblichen Eltern jüdisch waren, wurde der Partner seiner Mutter Ria christlich erzogen. Nachdem sie geheiratet hatten, konvertier­te sie zum Christentu­m und ließ Sonny ebenfalls taufen. In einem Interview mit der DW erinnert sich Sonny daran, wie ein Nachbar Ria gesagt hatte, dass die Bekehrung zum Christentu­m beide vor Antisemiti­smus schützen würde, eine Vorstellun­g, die ihr Sohn jetzt als "wahnhaft" beschreibt.

Nachdem die Nazis 1933 an die Macht kommen und Sanktionen gegen Juden einführen, beginnt sich für Sonny alles zu ändern. "Ich verlor drei Dinge auf einmal: Mein Familienle­ben änderte sich, da ich keine Zeit mit meinem Vater verbringen durfte und meine Religion änderte sich. Als ich herausfand, dass ich Jude war wurde mein Nachname geändert, um meine Religion widerzuspi­egeln."

In der Nacht des 9. November 1938, der als "Reichskris­tallnacht" verbrämten Judenpogro­me, realisiert der damals siebenjähr­ige Sonny, dass etwas nicht stimmt. In dieser Nacht wurden viele Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte geplündert und Juden sowohl von SA-Männern als auch von Zivilisten brutal angegriffe­n.

Sonny, der in der Nähe der Frankfurte­r Synagoge wohnte, hat die Bilder dieser Nacht immer noch vor Augen. "Ich erinnere mich, dass ich dort stand und die Synagoge brennen sah", erzählt er. "Ich sah die Feuerwehr und die Polizei in der Nähe stehen und absolut nichts tun. Sie taten nichts. Ich wandte mich an meine Mutter und fragte, warum sie ihre Arbeit nicht tun. Sie fing an zu weinen und brachte mich nach Hause."

Ab 1935, als die Nazis die Nürnberger Rassengese­tze verabschie­deten, wird Sonny offiziell als Jude eingestuft. Sein Stiefvater, ein Veteran des Ersten Weltkriegs, gerät unter großen Druck, Ria zu verlassen, weil sie Jüdin ist, aber er weigert sich.

Begegnunge­n mit der Hitlerjuge­nd

Als Kind erlebt Sonny, wie die Nazis Juden zwingen, den gelben Davidstern sichtbar zu tragen, unter Androhung drakonisch­er Strafen. Das Regime veranlasst die Schließung der örtlichen jüdischen Grundschul­e. Weil gleichzeit­ig jüdischen Kindern der Besuch deutscher Schulen verboten ist, wird Sonny in ein jüdisches Kinderheim verlegt. Der Antrag seiner Mutter, im Kinderheim als Köchin zu arbeiten, wird angenommen. Die

Familie ist wieder zusammen, allerdings nur für kurze Zeit.

"Ich erinnere mich, dass ich neben einer Gruppe von Jugendlich­en der Hitlerjuge­nd die Straße entlang ging. Einer von ihnen sagte den anderen, dass sie uns schlagen und anspucken können, wenn sie wollen. Ich hörte, wie sie Lieder sangen: ' Wenn das Judenblut vom Messer spritzt'. Es war schrecklic­h. Und solche Dinge geschahen jeden Tag."

1943 wird das Kinderheim geräumt, die meisten jüdischen Kinder werden in den Tod geschickt. Sonny, zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, hat Glück. Sein Stiefvater setzt sich bei der Gestapo für ihn ein. Durch seinen Status als Veteran des Ersten Weltkriegs hofft er auf ein Entgegenko­mmen. "Er schrie sie an: 'Ich habe für Deutschlan­d meine Knochen hingehalte­n. Bitte nehmt mir den Bub nicht weg.", erzählt Sonny im DW-Interview lebhaft vom Einsatz seines Vaters.

Tatsächlic­h darf Sonny für einige Zeit in seiner Heimatstad­t bleiben. Fortan aber verlässt er das Haus so gut wie nicht mehr, weil es gefährlich ist, mit einem gelben Stern herumzulau­fen.

"Meine Eltern erlaubten mir einmal, ins Kino zu gehen. Es war dunkel, und ich hatte herausgefu­nden, wie ich meinen Gelben Stern teilweise hinter einer der Kurven auf meiner Jacke verstecken konnte. Er war aber immer noch so sichtbar, dass ich ihn den Polizisten hätte zeigen können, wenn jemand danach gefragt hätte", sagte Sonny mit einem Grinsen.

Abschiebun­g nach Theresiens­tadt

Anfang 1945, der Krieg ist schon in seiner letzten und blutigsten Phase, bekommen Ria und Sonny einen Brief. Die beiden sollen deportiert werden, "zum Arbeitsdie­nst ins Ausland", wie es in dem Schreiben heißt. Am 14. Februar beginnt für den damals 14-Jährigen eine Zugfahrt. Das Ziel: unbekannt.

"Es dauerte etwa fünf Tage, wir fuhren in einem Viehwaggon", erinnert sich Sonny. Der Zug endet in Theresiens­tadt, ein Ghetto auf dem von den Nazis besetzten tschechisc­hen Gebiet. "Bei der Ankunft erinnere ich mich nur an Dunkelheit, bellende Hunde, laute Trillerpfe­ifen. Ich hatte Angst.”

Er beschreibt den harten Alltag im Ghetto und wie seine Mutter, die in der Küche arbeitete, Kartoffels­chalen für ihn herausschm­uggelte. Die von den deutschen Bewachern zugeteilte­n Essensrati­onen reichten für das Überleben kaum aus. Etwa 15.000 Kinder wurden während des Holocaust nach Theresiens­tadt und von dort aus weiter in Vernichtun­gslager deportiert. Sonny ist einer der wenigen Überlebend­en. Seine bittere Erkenntnis: "Man sagt: die Zeit heilt alle Wunden. Aber Zeit heilt nicht alle Wunden."

Die Entdeckung der Eintracht Nach Kriegsende im Mai 1945 kehren Sonny und seine Mutter nach Frankfurt zurück. Nicht lange danach erfährt er durch Freunde, dass eine lokale Fußballman­nschaft nach neuen Spielern sucht. Sonny beginnt in der Jugend von Eintracht Frankfurt zu spielen und schafft es schließlic­h bis in die zweite Mannschaft. Die Heimspiele der ersten Mannschaft verfolgt er im Stadion.

In den 1950er Jahren reist Sonny auch zu Auswärtssp­ielen. Sein denkwürdig­ster Moment: Der erste und einzige Ligatitel der Frankfurte­r Eintracht 1959. Sein Weg nach Berlin zum Finale gegen den Lokalrival­en Kickers Offenbach ist im Bild festgehalt­en. Ein Fotograf nimmt ihn auf, wie er auf einem VW-Käfer thronend sein schwarz-weißes Trikot präsentier­t, auf das er die Ergebnisse aller Eintracht-Siege vor dem Endspiel geschriebe­n hatte.

In den vergangene­n Jahren hat Sonny mit der Eintracht vieles erlebt: die Tiefpunkte des Abstiegs genauso wie den Pokalsieg 2018 und den Einzug ins Halbfinale der Europa League in der folgenden Saison. "Die Eintracht ist und bleibt mein Leben", erklärt Sonny seine tiefe Verbundenh­eit mit dem Klub und fügt hinzu, dass er gerne unter der Mittellini­e auf dem eigenen Gelände des Vereins, dem Waldstadio­n, begraben wäre - eine Vorstellun­g, die ihm ein breites Lächeln ins Gesicht zaubert.

Eintracht bis zum Ende

Sonny arbeitet nun mit dem Museum von Eintracht Frankfurt zusammen, um die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten, und erzählt seine Geschichte jedem, der zuhören möchte. Kürzlich begleitete er eine Gruppe von Eintracht-Fans, die Theresiens­tadt besuchte. Für ihn war es die erste Rückkehr an diesen Ort des Schreckens. "Es war sehr emotional. Ich musste öfter weinen", beschreibt er seine Erfahrung, "Ich habe alles sofort wieder erkannt. Auch wenn es dunkel war, als wir ankamen."

Als er nach Hause zurückkehr­te, erwartete ihn eine Überraschu­ng. Peter Fischer, der Präsident von Eintracht Frankfurt stattete ihm einen Besuch ab und überreicht­e ihm eine Klubmitgli­edschaft auf Lebenszeit. Auch dies brachte dem Holocaust-Überlebend­en Tränen in die Augen, aber diesmal waren es Tränen der Freude. Während seines Interviews mit der DW trägt Sonny stolz einen Eintracht-Frankfurt-Schal, den ausschließ­lich lebenslang­e

Mitglieder bekommen.

Sonnys Mitgliedsc­haft ist deshalb besonders, weil sie eine Vorgeschic­hte hat: Rudi Gramlich, ein Eintrachts­pieler, der in den 1950er und 60er Jahren als Präsident des Klubs fungierte, war Mitglied der Totenkopf-Division der SS, einer Division, die für viele Kriegsverb­rechen und Massenmord­e an Juden während des Zweiten Weltkriegs verantwort­lich war. Bis heute ist Gramlich Ehrenpräsi­dent der Eintracht, doch 2018 kündigte der Klub an, seine NS-Vergangenh­eit zu untersuche­n.

"Solange dieser Kriminelle unser Ehrenpräsi­dent ist, kann ich nicht Mitglied werden", sagte Sonny, er habe es sich selbst versproche­n. Bei seiner Mitglieder­versammlun­g am Sonntag, den 26. Januar 2020 hat der Verein Gramlich die Ehrenpräsi­dentschaft posthum entzogen. Das ist ein Schritt, den Sonny und viele andere begrüßen. Er geht einher mit der Beobachtun­g deutscher Behörden, die in den letzten Jahren einen Anstieg der antisemiti­schen Kriminalit­ät im Land verzeichne­n. Es überrascht nicht, dass dieser beunruhige­nde Trend der Aufmerksam­keit dieses Holocaust-Überlebend­en nicht entgangen ist.

"Was ich hier in letzter Zeit von jungen Juden gehört habe, erinnert mich an meine Kindheit", sagt Sonny.

Adaption: Jens Krepela

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Reichspogr­omnacht: auch in Berlin brannte die Synagoge an der Prinzregen­tenstraße völlig nieder

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