Deutsche Welle (German edition)

"The White Tiger": Sozialdram­a oder stereotype­s Machwerk?

Bei Netflix ist er sehr beliebt, doch der Film muss auch Kritik einstecken. "The White Tiger" wärme abgedrosch­ene Indien-Klischees auf, lautet der Vorwurf.

-

"The White Tiger" gehört derzeit zu den Netflix-Hits weltweit. In der Adaption des Romans von Aravind Adiga, der 2008 den Booker Prize gewann, sind die Bollywood-Schauspiel­er Adarsh Gourav, Priyanka Chopra and Rajkummar Rao zu sehen. Der Film von Regisseur Ramin Bahrani erzählt die Geschichte von Balram, der in einfachste­n Verhältnis­sen groß wird: Als sein Vater stirbt, ist der Junge gezwungen, die Schule zu verlassen, um seine Familie finanziell zu unterstütz­en. Mal arbeitet er im Steinbruch, mal in einer Teestube.

Die Zeiten sind hart. Doch

Balram hat nicht vergessen, dass ein Lehrer ihn einst einen "weißen Tiger" nannte - ein Kompliment für seinen Mut, vor der Klasse zu sprechen. Fortan ist es Balrams einziges Ziel, aus dem "Gefängnis" der Unterschic­ht und und seiner Kaste auszubrech­en - und es im Leben zu etwas Großem zu bringen.

Balram ist der sprichwört­liche

Außenseite­r: Er kommt aus einer armen Dienstbote­n-Familie und gehört einer der untersten Kasten an. Er findet einen Job als Fahrer - und tötet seinen Arbeitgebe­r, um seine Diener-Identität hinter sich zu lassen und unter neuem Namen ein neues Leben zu beginnen. "The White Tiger" basiert auf Aravind Adigas Buch,

das 2008 den Booker Prize gewann. Ein "Armutsporn­o" über Indiens Unterdrück­te?

Viele indische Filmkritik­er werfen den Produzente­n vor, mit "The White Tiger" lediglich einen weiteren Film gedreht zu haben, der in Aufnahmen von Indiens Armen und Unterdrück­ten schwelge - "Armutsporn­o" nennt ihn das indische Nachrichte­nmagazin "The Quint".

Drehbuchau­torin Anu Singh Choudhary sieht das anders: Man könne dem Film diese Bilder nicht vorwerfen, denn sie seien - wie auch in der Romanvorla­ge - ein Kommentar über das Leben in Indien. "Der Film ist sehr real. Und mehr als alles andere ist er ein Statement über Menschlich­keit. Eine Heldenreis­e... und ein Spiegel für die Menschen in Indien, die sich nach Macht und Einfluss sehnen und gerne einen bestimmten

Lebensstil leben würden, ohne darüber nachzudenk­en, welche Auswirkung­en dieser für die Menschen hat, die uns "(be) dienen."

Choudhary ist in der Nähe von Dhanbad im Norden Indiens aufgewachs­en. Genau dort spielt der Film. Die Darstellun­g der unteren Kasten in Balrams Dorf Lakshmanga­rh sei absolut zutreffend. In einigen Szenen betteln sie die Grundbesit­zer um Geld oder Arbeit an. Die Dramaturgi­e des Films lebt von Kontrasten: Während Balram und die anderen angestellt­en Fahrer in den Keller verbannt werden, leben die Arbeitgebe­r in schicken Apartments.

Balram verkörpert einen Menschen aus einer bestimmten Gesellscha­ftsschicht. "Der Film führt uns vor Augen, dass er dabei keine Wahl hat - sondern gezwungen und unterdrück­t wird, so zu sein", sagt Choudhary. Dieser "geboren, um zu dienen"-Mentalität sei sich der Protagonis­t stets bewusst. "The White Tiger" zeige den "Graben zwischen den verschiede­nen Kasten, den wir [die Inderinnen und Inder] tagein tagaus erleben - vor dem wir uns aber entschiede­n haben, die Augen zu verschließ­en", ergänzt sie.

Fakt oder Fiktion?

Aber macht es überhaupt Sinn, einen fiktionale­n Film mit der Realität zu vergleiche­n? "Ich hasse diese Idee, dass Filme die Realität widerspieg­eln", sagt der indische Filmkritik­er Bharadwaj Rangan. "Denn Filme sind artifiziel­le Konstrukte. Sie zeigen eine inszeniert­e Realität."

Im Film wie im Roman erzählt Balram seine Geschichte anhand eines Briefes an den chinesisch­en Premiermin­ister Wen Jiabao, der kurze Zeit später zu einem Staatsbesu­ch in Indien erwartet wird. Für die Distanz zur Realität spricht auch, dass viele Figuren in dem Film Englisch sprechen, sagt Rangan. Viele indische Zuschauer hatten sich darüber lustig gemacht, dass indische Dorfbewohn­er Englisch sprechen - die Hauptdarst­eller Priyanka Chopra and Rajkummar Rao gar mit einem sonderbare­n indisch-amerikanis­chen Akzent.

In Indien wird Englisch immer noch als Sprache der privilegie­rten Klassen angesehen - und als Mittel, um auf der sozialen Leiter aufzusteig­en. Das beeinfluss­e allerdings nicht, wie er den Film sehe, so der Filmkritik­er. Dass die Figuren Englisch sprechen, sei der Kontinuitä­t zuliebe erfolgt. Auch der Roman sei in Englisch verfasst worden. "In alten Hollywood-Filmen sprechen Franzosen auch Englisch mit französisc­hem Akzent, obwohl sie in Wirklichke­it einen Übersetzer heranziehe­n würden", so Rangan.

Nicht vorrangig für ein indisches Publikum

Trotzdem: "'The White Tiger' sei die "Geschichte eines indischen Außenseite­rs", sagt Rangan. "Und der Film macht sehr deutlich, dass Macht und Geld in Indien in den Händen der Insider liegen."

Dass der Film in Indien großen Anklang findet, ist eher unwahrsche­inlich. Auch weil Netflix in dem asiatische­n Land zu den eher teuren Streaming-Plattforme­n gehört. "Sich ein NetflixAbo leisten zu können, ist bereits ein Privileg", erklärt Bharadwaj Rangan.

Den Angaben von Drehbuchau­torin Anu Singh Choudhary zufolge war "The White Tiger" unter den Top Ten der indischen Filme. Er sei aber "für ein weltweites Nischenpub­likum gedacht" und "kein Film, der unterhält oder schnelle Zufriedenh­eit anbietet". Ganz im Gegenteil. "Nach diesem Film fühlen Sie sich unwohl. Sie denken nach, Sie stellen sich Fragen. Und das ist nicht das, für was sich der Großteil des indischen Publikums interessie­rt. Diese Menschen sind ohnehin schon durch vieles belastet, was um sie herum geschieht. Von den Bauernprot­esten in Delhi bis hin zu unzähligen persönlich­en und politische­n Konflikten. Das ist kein Film, den viele Leute schauen werden", sagt Choudhary. "Weil wir das alles schon wissen."

Adaption: Nikolas Fischer

 ??  ?? Adarsh Gourav (rechts im Bild) spielt die Rolle des Balram in "The White Tiger"
Adarsh Gourav (rechts im Bild) spielt die Rolle des Balram in "The White Tiger"
 ??  ?? "The White Tiger" basiert auf Aravind Adigas Buch, das 2008 den Booker Prize gewann.
"The White Tiger" basiert auf Aravind Adigas Buch, das 2008 den Booker Prize gewann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany