Deutsche Welle (German edition)
Portugals dramatische Corona-Lage
Volle Intensivstationen, Triage-Zelte vor den Kliniken, bedrückende Todeszahlen: Die dritte Infektionswelle trifft Portugal so unbarmherzig wie keine zuvor. So sehr, dass nun sogar die Bundeswehr zu Hilfe kommen muss.
Über das gesamte Jahr 2020 hätte man Portugal als Corona-Patienten mit mildem Verlauf beschreiben können - das hat sich seit dem Jahreswechsel schlagartig gewandelt: Die Sieben-Tage-Inzidenz explodierte förmlich, derzeit liegt der Wert bei fast 850 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Etwa 43 Prozent aller bekannten Ansteckungen und 44 Prozent aller Todesfälle seit Beginn der Corona-Pandemie erfolgten allein im Januar 2021, gaben die Gesundheitsbehörden des südwesteuropäischen Landes bekannt.
Die Lage sei "sehr angespannt", bestätigt auch Reinhard Naumann, der das Lissabonner Büro der SPD-nahen FriedrichEbert-Stiftung leitet. "Die ganze Bevölkerung ist sehr nervös angesichts dieser dramatischen Entwicklung der letzten zwei, drei Wochen."
Als Gründe für die Eskalation führt die Regierung mutierte Virusvarianten wie die erstmals in Großbritannien aufgetretene Mutante B.1.1.7 an, aber auch die Lockerung der Beschränkungen vor den Weihnachtstagen. Längst gilt wieder ein rigider Lockdown mit geschlossenen Schulen, Läden und Restaurants sowie weitreichenden Bewegungseinschränkungen. Mit Ausreisesperren will die Regierung die Weiterverbreitung ins Ausland verhindern, bis die Lage sich entschärft.
Korrespondent Jan- Philipp Scholz aus Portugal, müssten teils stundenlang warten, bevor sie die Patienten an die überfüllten Kliniken abgeben können. Mit landesweit rund 850 schwer kranken COVIDPatienten sind die Intensivstationen nahezu komplett ausgelastet, etwa 6700 weitere Erkrankte werden auf Normalstationen behandelt. Vor einigen Kliniken sind Triage-Zelte aufgebaut: In ihnen entscheiden Ärzte auf Grundlage von Sauerstoffgehalt und Körpertemperatur, welche neu angelieferten Patienten zuerst behandelt werden sollen.
Im Eiltempo werden Feldlazarette geschaffen, um weitere Erkrankte aufnehmen zu können.
Joao Roquette von der English University Lisbon erklärt, dass auch die Basketballhalle seiner Hochschule umfunktioniert wird, damit dort 150 COVID-Patienten aufgenommen werden können: "Die Sporthallen sind flexibel, das ist der Vorteil. Man kann sie eigentlich recht einfach in ein Feld-Krankenhaus umfunktionieren. Viel schwieriger wird es, so schnell geeignetes medizinisches Personal zu finden und die Klinik am Laufen zu halten."
Während die COVID- Patienten in staatlichen Einrichtungen versorgt werden, fallen privaten Kliniken andere Aufgaben zu, erläutert FES-Büroleiter Naumann im DW-Interview: "Der Privatsektor ist wichtig, um die Nicht-COVID-Patienten, die jetzt im öffentlichen Gesundheitswesen nicht mehr zum Zuge kommen, zu versorgen." Dort würden gerade Behandlungen geleistet, die ebenfalls wichtig seien, aber im öffentlichen Bereich wegen COVID-19 nicht mehr durchgeführt werden könnten.
Im Kampf gegen die akute Corona-Welle ist die Personalnot der wohl größte Engpass: Die portugiesische Regierung vermeldete am Freitag, 70 Prozent des medizinischen Personals sei mit dem Coronavirus infiziert. Die deutsche Bundeswehr entsendet am Mittwoch ein 26-köpfiges Hilfsteam mit acht Ärzten für zunächst drei Wochen nach Portugal. An Bord des A400M-Transportflugzeugs sollen auch 50 Beatmungsgeräte, 150 Infusionsgeräte und 150 Krankenbetten nach Lissabon gelangen. Die portugiesische Gesundheitsministerin Marta Temido hatte Deutschland vor einer Woche um Hilfe ersucht.
In Portugal übernimmt der Serviço Nacional de Saúde (SNS) die öffentliche Gesundheitsvorsorge, der Nationale Gesundheitsdienst, dessen Struktur dem gleichnamigen britischen Vorbild teilweise nachempfunden ist. Das öffentliche Gesundheitswesen "hat durch viele Einsparungen über die letzten Jahre, vor allem in der Zeit der Troika, sehr gelitten, und sich aber doch wacker geschlagen", sagt Naumann. Im Zuge der Eurokrise war Portugal von der sogenannten "Troika" aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission in den vergangenen Jahren ein striktes Sparprogramm auferlegt worden. "Selbst in dieser zugespitzten Situation habe ich den Eindruck, dass das Ministerium das wirklich gut gemanagt hat."
Naumann bewertet die Anstrengungen des SNS sehr positiv und zitiert dazu ein portugiesisches Sprichwort: Das Gesundheitssystem mache "mit wenigen Eiern viele Omeletts", die Ministerin und ihr Stab habe systematisch die Ressourcen ausgebaut. "Mein Eindruck ist, dass sie seit Beginn der Pandemie daran gearbeitet haben, diese Kapazitäten vorzubereiten und bereitzustellen."
Seit dieser Woche werden zusätzliche Personengruppen wie Über-80-Jährige geimpft. In der portugiesischen Presse wird das jedoch als "symbolischer Start" bezeichnet, da auch Portugals Impfkampagne von der weltweiten Impfstoffknappheit gehemmt wird. Bis Ende März peilt die Regierung einen vollständigen Impfschutz für gut 800.000 der zehn Millionen Einwohner an, eine weitere halbe Million soll bis dahin die erste Dosis erhalten. Die Verantwortlichen rechnen daher vorerst weiter mit einer starken Verbreitung und großen Anstrengungen.
Für Ärztinnen und Pfleger ist der Kampf gegen die Pandemie ein extremer Kraftakt - weshalb sie auch viel Unterstürtzung aus der Zivilgesellschaft bekommen. So etwa auch durch das CaravanProjekt von Ricardo Paiagua, das ihnen Ruheräume bereitstellt, in denen sie sich direkt vor den Kliniktoren von den langen, kräftezehrenden Schichten erholen können. 50 Wohnmobile und 200 Freiwillige stehen für sie bereit. "Die Arbeit hier ist schon sehr emotional", sagt der Unternehmer Paiagua im DWGespräch. "Vergangene Woche hat eine Ärztin an meine Tür geklopft und wollte sich einfach bedanken. Sie meinte, sie fühle sich so oft verzweifelt. Ich glaube, außer einem Schlafplatz braucht das medizinische Personal manchmal eben auch moralische Unterstützung."
Auch Reinhard Naumann von der Friedrich-Ebert-Stiftung nimmt einen großen Zusammenhalt in der Gesellschaft wahr: "Man merkt schon, die Leute hier ziehen jetzt mit, weil alle verstanden haben, ^ dass es jetzt ums Ganze geht." Zwischenzeitlich habe es auch Kritik und Anzeichen von Pandemie-Müdigkeit gegeben. "Aber inzwischen habe ich den Eindruck, dass unter diesem Druck und mit diesen fürchterlichen Zahlen, die es in den letzten Wochen gegeben hat, der Zusammenhalt wieder gewachsen ist."
Mitarbeit: Jan-Philipp Scholz