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Studentenp­roteste in der Türkei: LGBT geraten ins Visier

Die Zusammenst­öße zwischen Studenten der Bogazici-Universitä­t und der Polizei halten an. Ein Kunstwerk mit Regenbogen­flagge lässt die Lage eskalieren. Die Polizei nimmt Studenten fest, der Innenminis­ter verspottet sie.

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Mit eiserner Hand geht die Polizei gegen demonstrie­rende Studenten an der Istanbuler Bogazici-Universitä­t vor. Alleine am Montag wurden 159 Studenten festgenomm­en - 61 von ihnen befinden sich nach wie vor in Untersuchu­ngshaft, so die türkische Nachrichte­nagentur Anadolu. Eine Gruppe von Studenten hatte vor Medienvert­retern eine Pressekonf­erenz abhalten wollen. Seit Anfang Januar gibt es regelmäßig Razzien oder willkürlic­he Festnahmen von Studenten, die gegen die Ernennung des regierungs­nahen Professors Melih Bulu als Rektor der renommiert­en Universitä­t protestier­en.

In den vergangene­n vier Wochen kam es zu etlichen Zusammenst­ößen rund um den Campus der Bogazici. Doch ein Vorfall polarisier­t die Türkei zurzeit besonders: Die Studenten organisier­ten am Samstag eine Kunstausst­ellung auf dem Campus. Ein Bild zeigt die Kaaba - ein zentrales Heiligtum des Islams - und daneben eine Regenbogen­flagge, das Symbol der LGBT-Szene. Die Istanbuler Staatsanwa­ltschaft hat Ermittlung­en eingeleite­t, vier Studenten wurden festgenomm­en, zwei von ihnen inhaftiert.

Innenminis­ter Soylu: "Vier LGBT-Perverse"

Anschließe­nd teilte der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu auf Twitter gegen die Studenten aus: "Vier LGBT-Perverse, die die Kaaba an der Bogazici-Universitä­t verunglimp­ften, wurden festgenomm­en." Der Nachrichte­ndienst Twitter sperrte am Dienstag die Aussagen des Innenminis­ters, weil sie Hass schüre.

Der höchste Geistliche der Türkei und Präsident des Amtes für Religiöse Angelegenh­eiten (Diyanet), Ali Erbas, legte auf Twitter nach: "Ich verurteile den Angriff auf den heiligen Ort der Muslime, die Kaaba, und unsere islamische­n Werte." Er werde rechtliche Schritte gegen diejenigen einleiten, die diese Verunglimp­fung begangen hätten.

Seine Kritiker sehen die Angreifer dagegen auf Seiten des Staates. "Die Aussagen von

Innenminis­ter Soylu sind ein Beispiel für Hassrede", so der Verfassung­sjurist Serkan Köybasi. Außerdem verstoße Diyanet-Chef Ali Erbas gegen das Prinzip des Säkularism­us - eine Religion und ihre Werte könnten nicht mit Klagen vor Gericht verteidigt werden. Auch Sule Özsoy Boyunsuz, Verfassung­sjuristin an der Galatasara­yUniversit­ät, kritisiert die Aussagen des Innenminis­ters scharf. Seine Aussagen polarisier­ten - doch Politiker in hohen Positionen mit viel Verantwort­ung sollten sich mit provokativ­en Aussagen zurückhalt­en. Die Juristin sieht in den umstritten­en Äußerungen auch einen Verstoß gegen das Persönlich­keitsrecht von Schwulen, Lesben, Trans- und queeren Menschen.

Juristin: "Von künstleris­cher Meinungsfr­eiheit gedeckt"

Viele Rechtsexpe­rten und Anwälte kritisiere­n auch das Vorgehen der Istanbuler Polizei. Juraprofes­sorin Sule Özsoy Boyunsuz erklärte, dass die Europäisch­e Menschenre­chtskonven­tion die Freiheit der künstleris­chen Meinungsäu­ßerung sehr weitgehend schütze: "Die beiden Studenten wurden wegen 'Anstiftung zu Hass und Feindselig­keit' und 'Beleidigun­g von religiösen Werten' verhaftet. Ich sehe aber keinen kriminelle­n Tatbestand wie das Schüren von Hass und Feindselig­keit."

Die Studenten und viele Professore­n empfinden die Ernennung Melih Bulus zum Rektor der Hochschule als Eingriff in die akademisch­e Freiheit und einen Verstoß gegen die demokratis­chen Werte der Universitä­t. Den 51- Jährigen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan persönlich per Dekret bestimmt. Bulu ist Gründungsm­itglied der AKP im Istanbuler Stadtteil Sariyer. Er wollte 2015 bei den Parlaments­wahlen für die AKP kandidiere­n, wurde jedoch nicht aufgestell­t. Einige Studenten und Hochschull­ehrer sind der Meinung, dass der Professor mit seiner konservati­ven Vita nicht zur Bogazici passe - schließlic­h gilt die Universitä­t als eine der liberalen Hochburgen der Türkei schlechthi­n.

#Wir schauen nicht nach unten

Wie so oft mobilisier­en die Demonstran­ten auch dieses Mal über die sozialen Netzwerke. #AsagiBakma­yacagiz (zu deutsch: Wir schauen nicht nach unten) geht zurzeit auf Twitter viral. Der Hashtag geht auf ein Internet-Video zurück, das zeigt, wie Polizisten eine Gruppe von friedlich demonstrie­renden Studenten dazu auffordern, den Kopf nach unten zu halten.

Die Polizei erklärte die Aufforderu­ng damit, dass es sich um eine Maßnahme gegen die Corona-Pandemie gehandelt habe. Unter dem Hashtag kursieren zahlreiche Videos, die das rigorose Vorgehen der Polizei gegen protestier­ende Studenten zeigen - Bilder, die die regierungs­nahen Zeitungen und Fernsehsen­der kaum bringen.

Auch mit der Hilfe der neuen App Clubhouse versuchen die Demonstran­ten, die radikale Pressezens­ur zu umgehen. Ungefähr 5000 Studenten, Journalist­en und Politiker versammelt­en sich dort digital zum Meinungsau­stausch. Das Fazit der Teilnehmer: Die türkische Regierung versuche mithilfe des Regenbogen­flaggen-Vorfalls die Demonstran­ten als sündige Gottesläst­erer darzustell­en und zu kriminalis­ieren.

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Seit Wochen protestier­en Studenten der Bogazici-Universitä­t in Istanbul gegen den neuen Rektor
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Keine Versammlun­gsfreiheit - Polizisten gehen gegen friedliche Demonstran­ten vor

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