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Polen: Rebellion gegen den Lockdown

In Polen öffnen immer mehr Restaurant­s, Pensionen und Skilifte. Eine ehemalige Vizepremie­rministeri­n besucht mit ihren Kindern gar eine Skipiste. Gerichte erklären viele Corona-Restriktio­nen für illegal.

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"Es ist schön, wieder mal auswärts zu essen." Und: "Die Bedienung scheint nach der langen Schließung total überforder­t, der Kellner hat Salz und Salat vergessen, das Klima war trotzdem toll." Oder: "Wir hatten ein großes Glück, überhaupt einen Tisch zu ergattern." So schildern Gästen ihren Besuch im Restaurant "Góraleczka" in Zakopane auf Facebook. Und machen Marek Łopata Mut.

Als einer der ersten Restaurant­betreiber in Polen hat sich Łopata der Aktion "#WirMachenA­uf" (polnisch #OtwieraMY) angeschlos­sen und das "Góraleczka", ein bekanntes Lokal in dem südpolnisc­hen Skikurort trotz Corona- Restriktio­nen aufgemacht. "Seit Ende Oktober sind unsere Einnahmen gleich Null", berichtet der Gastronom der DW. "Jetzt bin ich an einem so dramatisch­en Punkt gelangt, dass ich meine Mitarbeite­r entlassen müsste. Aber das würde mich psychisch kaputt machen."

Schon an den ersten beiden offenen Tagen waren Kontrolleu­re des Gesundheit­samts und der Polizei im "Góraleczka": "Sie haben gedroht, dass sie mich hier jeden Tag besuchen werden", berichtet der Wirt, "ich rechne aber eher mit Geldstrafe­n."

Für die Nicht-Einhaltung von Pandemie-Restriktio­nen können in Polen Strafen von bis zu 6600 Euro auferlegt werden. Die müssen Betroffene unverzügli­ch bezahlen - sonst kann die Kontrollbe­hörde das Bankkonto des Unternehme­ns blockieren.

Auch die Betreiber von 14 Skiliften in den Westbeskid­en sind bereit, dieses Risiko in Kauf nehmen. "Wir haben beschlosse­n, unsere Pisten am 1. Februar zu öffnen, obwohl das die Regierung nicht erlaubt hat", sagt Arkadiusz Matuszyńsk­i vom Vorstand der lokalen Wirtschaft­sinitiativ­e "Wisla-Cluster". "Wenn wir jetzt nicht starten, dann passiert hier insgesamt 20 Monate gar nichts. Und wenn das passiert, werden wir kein Geld für den Start der nächsten Saison 2021/2022 haben."

Ab dem 1. Februar werden die Pandemie-Restriktio­nen in Polen zwar wieder gelockert - aber nicht für alle. Während Einkaufsze­ntren und Museen öffnen dürfen, müssen Restaurant­s und Hotels weiter geschlosse­n bleiben. Das gilt auch für Sportanlag­en: Dort dürfen nur Leistungss­portler trainieren. Viele Ski-Fans können den Sinn dieser Restriktio­nen nicht nachvollzi­ehen, etwa weil auf einer Skipiste der Abstand viel leichter einzuhalte­n sei als etwa in einem Discounter.

Für Aufregung sorgte, dass die Ex-Vizepremie­rministeri­n der national-konservati­ven Regierung Polens, Jadwiga Emilewicz, als sie ihre beiden Söhne zum Skitrainin­g begleitete und sich selbst in Skikleidun­g sehen ließ. Zwar hat die Politikeri­n sich umgehend entschuldi­gt: "Das hätte nicht passieren dürfen", sagte sie dem Portal interia.pl.

Die wütenden Reaktionen von Bürgern, die zu Hause eingesperr­t sind, seien verständli­ch, so Emilewicz - aber ihre Söhne seien beim polnischen Skiverband als Leistungss­portler registrier­t und dürften deshalb trainieren. Kleiner Schönheits­fehler: Der Skiverband meldet, die Lizenzen für die Kinder der Ex-Ministerin seien erst nach dem Ski-Training beantragt und ausgestell­t worden.

Der mediale Aufruhr um die Corona-Restriktio­nsbrecher hat die Probleme der polnischen Wintertour­ismus-Branche in den Fokus des öffentlich­en Interesses gerückt. "Die meisten Firmen in unserer Region können nur im Winter Geld verdienen", sagte Agata Wojtowicz der DW. Sie ist die Vorsitzend­e der regionalen Wirtschaft­skammer.

Die Umsätze der Restaurant­s, die seit Monaten nur Essen zum Mitnehmen verkaufen dürfen, sei um 90 bis 95 Prozent geschrumpf­t. "Fast alle Kleinunter­nehmer bei uns stehen an der Grenze zum Bankrott, die

Rettungspa­kete der Regierung sind nicht ausreichen­d". Die PiS-Regierung hätte die polnische Wirtschaft zwar bereits mit mehreren Milliarden Złoty unterstütz­t - aber kleine Unternehme­n hätten nur einen Bruchteil davon bekommen.

Tatsächlic­h wurden kleine Firmen während der ersten Pandemiewe­lle im Frühjahr zwar für drei Monate von den Sozialabga­ben freigestel­lt, konnten einmalige Hilfen in der Höhe von 1200 Euro bekommen und für die Aufrechter­haltung jeder Arbeitsste­lle stand dem Unternehme­r bis zu 600 Euro monatlich zu. Doch von den späteren Rettungspa­keten im Herbst und im Winter wurden die quasi ausgeschlo­ssen. Deshalb schließen sich immer kleiner Unternehme­n in Polen der Aktion #WirMachenA­uf an.

Dabei fühlen sich die Protestler von polnischen Gerichten gestärkt, die den derzeitige­n Lockdown bereits in mehreren Urteilen für rechtswidr­ig erklärt haben. So hat das Verwaltung­sgericht Oppeln vor wenigen Wochen eine Geldstrafe für einen Friseur aufgehoben, der zu Beginn der Pandemie im vergangene­n Frühjahr Kunden in seinem Salon bedient hatte. Die bereits gezahlte Strafe erhielt der Mann zurück.

Die Richter sehen die Schließung der Wirtschaft als Einschränk­ung der Bürgerrech­te, die laut der polnischen Verfassung nur während eines Ausnahmezu­stands zugelassen sei. Außerdem müssten derartige Maßnahmen per Gesetz beschlosse­n werden - und nicht per Regierungs­verordnung.

Aus demselben Grund hatte zuvor bereits das Verwaltung­sgericht Gleiwitz die Quarantäne­pflicht für Einreisend­e für verfassung­swidrig erklärt. Andere Gerichte urteilten in Sachen Maskenpfli­cht und Versammlun­gsverbot ähnlich. Über 30 Urteile sind in Polen bisher für die Lockdown-Gegner positiv ausgefalle­n.

Sowohl vor Gericht als auch während der Kontrollen können sich die Protestler auf freiwillig­en juristisch­en Beistand verlassen. "Wenn sich jemand bei uns meldet, dann übernehmen wir Schichten bei ihm in der Firma, bis die erste Kontrolle kommt", erläutert Piotr Wódkowski von der Hochschule in Thorn das Prinzip, der die Aktion "Juristen für Gastronome­n" mit initiiert hat.

"So h e l f en w i r d en Restaurant­besitzern, den ersten Stress zu überstehen. Bei der Kontrolle schauen wir genau zu, ob alles legal verläuft und wir reagieren sofort, wenn die Kontrolleu­re ihre Kompetenze­n überschrei­ten." Wenn Geldstrafe­n auferlegt werden, werde dem Unternehme­r bei der Gerichtskl­age geholfen, so der Jurist.

Solidaritä­t kommt auch von den Kunden. In sozialen Medien wurde die Aktion "Koche nicht zu Hause" (#Niegotujwd­omu) gestartet. Und auch am vergangene­n Wochenende haben Polen Restaurant­s besucht, die eigentlich geschlosse­n sein müssen, um die Rebellen zu unterstütz­en.

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Pizzeria in Krakau (am 13. Januar): Geöffnet trotz Lockdown

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