Deutsche Welle (German edition)

Die minderjähr­igen Migrierend­en in Bosnien bedroht nicht nur die Kälte

Zurzeit halten sich etwa 500 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e in Bosnien auf. Laut der Hilfsorgan­isation "Save the Children" laufen sie von allen Migranten am meisten Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden.

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Kinder spielen auf einer Betonplatt­e vor dem Eingang zum Flüchtling­scamp Borići nahe der Stadt Bihać im Nordwesten Bosnien und Herzegowin­as. Hier sind vor allem Familien aus Afghanista­n untergebra­cht. Die Kinder sind klein, sechs, sieben, acht Jahre alt. Ihr Spiel nennen sie "The Game".

Die Kinder haben sich in zwei Gruppen geteilt. Die einen spielen "Flüchtling­e", die anderen "kroatische Polizisten". Die "Flüchtling­e" versuchen, von einer Seite der Betonplatt­e auf die andere zu kommen. Die "Polizisten" müssen sie daran hindern. Sie sind laut, schimpfen, drohen, schubsen die Eindringli­nge weg, tun so, als ob sie sie schlagen würden. Am Ende schieben die "Polizisten" die "Flüchtling­e" "ab". Game over.

"Diese Kinder ahmen das nach, was sie gesehen und erlebt haben, was zu ihrem Alltag gehört", sagt Dubravka Vranjanac, Leiterin des Notfalltea­ms Nordwestba­lkan der internatio­nalen Hilfsorgan­isation "Save the Children"." The Game" nennen Migranten in Bosnien ihre Versuche, über die grüne

Grenze ins EU- Mitgliedsl­and Kroatien zu gelangen, um von dort aus weiter Richtung Westen zu ziehen.

Seit Jahren verhindern kroatische Sicherheit­skräfte viele dieser Versuche, indem die Flüchtende mit nach internatio­nalem Recht illegalen "Pushbacks" zwingen, nach Bosnien zurückzuke­hren. Dabei kommt es nach Aussagen von Betroffene­n, Helfern und Beobachter­n immer wieder zu massiver Gewaltanwe­ndung.

Zurzeit leben in Bosnien etwa 1000 minderjähr­ige Flüchtling­e. Etwa die Hälfte davon sind alleine unterwegs, ohne Familien oder andere erwachsene Personen. Die meisten kommen aus Afghanista­n, Syrien oder Pakistan,überwiegen­d sind sie in den Flüchtling­scamps untergebra­cht, wo es keine getrennte Bereiche für die Minderjähr­igen gibt. Dort sind sie Gefahren für ihre Gesundheit, Schikanen und Gewalt ausgesetzt.

Noch gefährdete­r sind laut Save the Children etwa 50 unbegleite­te Minderjähr­ige, die außerhalb der Camps leben. Sie sind nicht registrier­t, haben keine warme Unterkunft, bekommen keine regelmäßig­en Essensrati­onen. Sondern schlagen sich irgendwie durch.

"Seit zwei Monaten schlafe ich in verlassene­n Häusern, esse, was ich von Hilfsorgan­isationen oder Einheimisc­hen bekomme. Aber in den Gebäuden ist es jetzt sehr kalt. Und wenn wir Feuer machen, können wir wegen des Rauches nicht mehr atmen", berichtet 17-jährige Fahad* aus Pakistan, der sich zurzeit in der Nähe der westbosnis­chen Stadt Bihać aufhält.

Zusammen mit einigen anderen Minderjähr­igen wartet Fahad auf eine Gelegenhei­t, "The Game" zu versuchen. Die Grenze nach Kroatien ist nicht weit entfernt. Viele der Minderjähr­igen haben schon versucht, auf die andere Seite zu kommen, einige schon mehr als zehn Mal. Aber sie wurden immer wieder von der kroatische­n Polizei entdeckt und zurück nach Bosnien getrieben. Einen Asylantrag in der EU, den das Gesetz eigentlich vorsieht, konnten sie nicht stellen. Das EU-Land Kroatien wurde bereits mehrmals für diese illegalen "Pushbacks" kritisiert, unter anderem im Europäisch­en Parlament. Geholfen hat das aber wenig.

"Wir haben versucht, die Grenze zu überqueren - und jetzt dürfen wird nicht mehr in die Camps zurück", sagte der 15-jährige Abdul* aus Afghanista­n, der zusammen mit einem anderen Minderjähr­igen aus seinem Heimatdorf in einer herunterge­kommenen Fabrik nahe Bihać haust. "Jedes Mal, wenn wir in eines der Lager wollen, sagen sie uns, dass es dort keinen Platz gibt. Aber hier draußen ist es jetzt sehr kalt. Im Lager haben wir Freunde, sie haben es warm und es geht ihnen gut".

Unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e sind die am meisten gefährdete Flüchtling­sgruppe. Oft werden sie Opfer von Gewalt. "Die Menschensc­hmuggler behandeln Kinder schlechter als

Erwachsene", erklärt Dubravka Vranjanac. "Sie müssen im Kofferraum des Wagens oder unter den Sitze mitfahren. Oft berichten solche Kinder, sie hätten das Gefühl, dass die Schmuggler oder lokalen Führer über ihr Leben verfügen". Dabei sei sexuelle Gewalt an der Tagesordnu­ng: "Opfer sind meistens Mädchen oder junge Frauen, aber wir haben auch 17 Fälle sexualisie­rter Gewalt gegenüber Jungen registrier­t."

Hinzu kommen traumatisc­he Erlebnisse bei den Versuchen, die Grenze zur EU zu Überqueren. Dubravka Vranjanac beschreibt eine Szene im Flüchtling­scamp Sedra nahe der westbosnis­chen Gemeinde Cazin: "Als die Eltern einer Familie mit kleinen Kindern anfingen, von ihrem nächsten Versuch zu reden, 'The Game' zu gewinnen, fingen die Kinder an zu weinen und zu schreien. Sie flippten regelrecht aus. Ihre Angst war offenbar riesengroß."

Fü r u n begl ei tete mi n - derjährige Flüchtling­e ist die

Situation in Westbosnie­n noch schwierige­r geworden, seit das Flüchtling­scamp auf dem Gelände der früheren Fabrik Bira in Bihać geschlosse­n wurde. Dort gab es immerhin eine spezielle Abteilung für die Minderjähr­ige, offiziell mit 270 Plätzen. Zuletzt waren um die 400 Jugendlich­en dort. Als Bira geschlosse­n wurde, wollte man sie in andere Camps verlegen, die im Landesinne­ren liegen. Aber nur wenige sind dorthin gegangen weil diese Flüchtling­seinrichtu­ng weit weg von der Grenze zum EU-Land Kroatien liegen und die Migrierend­en befürchtet­en, nicht mehr dorthin zurück kommen zu können, wenn die Wetterbedi­ngungen sich im Frühjahr verbessern. es in Bosnien generell nicht genug Plätze für die Minderjähr­ige gibt - aber es besteht kein funktionie­rendes System, um sie unterzubri­ngen", sagt Dubravka Vranjanac. "Es gibt Platz, aber nur im Inland, wo die Jugendlich­en nicht hin wollen. In der Region nahe der kroatische­n Grenze dagegen sind alle Kapazitäte­n voll.". Deswegen lebten viele migrierend­e Kinder auf der Straße, schliefen in verlassene­n

Gebäuden oder in improvisie­rten Camps im Wald nahe der Grenze.

Diese Minderjähr­igen seien nicht registrier­t - und befänden sich somit außerhalb jedes Systems. An medizinisc­he Hilfe und anderweiti­ge Unterstütz­ung kämen sie kaum. Deswegen fordert die Organisati­on Save the Children einerseits die Registrier­ung aller jugendlich­en Migrierend­en in Bosnien - und anderersei­ts, dass man die Hilfe für sie dort organisier­t, wo sie sich auch befinden. Gleichzeit­ig fordert die EU von Kroatien, mit der Tolerierun­g der illegalen "Pushbacks" durch die kroatische­n Polizei aufzuhören.

*Die Namen der migrierend­en Jugendlich­en sind "Save the Children" bekannt.

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Schlafplät­ze minderjähr­iger Migranten in einem leerstehen­den Altenheim in der Nähe der westbosnis­chen Stadt Bihać
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Auch diese minderjähr­ige Migrierend­e übernachte­t in einem leerstehen­den Gebäude in Westbosnie­n
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