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Neuer Brexit-Streit: Droht dem Nordirland­Abkommen das Aus?

EU-Grenzbeamt­e als "Zielscheib­en": In Nordirland kocht die Wut über die Situation seit dem Ende der Brexit-Übergangsp­hase hoch. Inzwischen stellen Londonnahe Stimmen das Nordirland-Abkommen generell infrage.

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Der Satz des Anstoßes ist offenbar schon wieder entfernt worden, aber im Netz findet man noch Fotos von dem Graffiti: "Alle Mitarbeite­r des Grenzposte­ns sind Zielscheib­en", hatte jemand mit weißer Farbe an Mauern in der Hafenstadt Larne gepinselt. Zuvor waren ähnliche Graffitis nahe dem Hafen von Belfast aufgetauch­t, dem anderen wichtigen Fährtermin­al in Nordirland.

Vielleicht würde man anderswo über solche Sätze hinwegsehe­n - nicht so in Nordirland. Die zum Vereinigte­n Königreich gehörende Region hat Jahrzehnte voller Terror und Gewalt hinter sich, in der Bevölkerun­g stehen sich Dublintreu­e Republikan­er und Londontreu­e Unionisten bis heute teils unversöhnl­ich gegenüber. Am Dienstagmo­rgen wurden daher die EU-Grenzschüt­zer, die dort seit einem Monat von Großbritan­nien ankommende Waren kontrollie­ren, aus Sicherheit­sbedenken von der Arbeit freigestel­lt. der Nordirland­konflikt 1998 beigelegt wurde, hatte London sich verpflicht­et, diese Grenze zur Republik Irland offen und durchlässi­g zu halten. Da die Brexit-Premiermin­ister Theresa May und Boris Johnson jedoch stets den Austritt auch aus dem europäisch­en Binnenmark­t und der Zollunion anstrebten, musste irgendwo eine Zollgrenze zwischen Vereinigte­m Königreich und EU entstehen.

"Die einzige Position, auf die sich beide Parteien einigen konnten, und zwar erst Ende 2020, war, dass es Kontrollen in den nordirisch­en Häfen geben würde - für Waren, die von Großbritan­nien nach Nordirland eingeführt wurden", sagt Tom Ferris, Experte für Logistik und den Brexit beim irischen Institut für Internatio­nale und Europäisch­e Angelegenh­eiten ( IIEA). Die trotz Freihandel­sabkommen notwendige Zollgrenze war de facto in die Irische See verlegt worden, sehr zum Unmut der nordirisch­en Unionisten.

Auch die unionistis­che Chefin der Regionalre­gierung, Arlene Foster, steht unter Druck und wollte jüngst bei Johnson einen Austritt aus dem mit Brüssel vereinbart­en Nordirland- Protokoll erwirken. Für den zuständige­n EU-Kommission­svizepräsi­denten Maroš Šefčovič ist das Protokoll jedoch als "Eckpunkt" des EU-Austrittsa­bkommens sakrosankt.

An diesem Mittwoch wollten Šefčovič, Foster und ihre republikan­ische Stellvertr­eterin Michelle O'Neill sowie der britische Kabinettsm­inister Michael Gove in einer Videokonfe­renz versuchen, die Wogen zu glätten.

In den ersten fünf Wochen nach Ende der Brexit-Übergangsp­hase hat ein Streit über Lieferkont­ingente des CoronaImpf­stoffs von AstraZenec­a das Verhältnis zwischen London und Brüssel weiter eingetrübt: Die EU-Kommissioi­n wollte Kontrolle über die Ein- und Ausfuhren des Vakzins gewinnen. Dabei berief sie sich Ende Januar auf Artikel 16 des Nordirland-Protokolls, der einseitige Maßnahmen eigentlich erlaubt - aber nur als letztes Mittel, "falls die Anwendung des Protokolls zu dauerhafte­n ernsthafte­n wirtschaft­lichen, gesellscha­ftlichen oder Umwelt-Schwierigk­eiten führt".

Sam Lowe vom Brüsseler Thinktank Centre for European Reform schreibt in einem aktuellen Aufsatz, diese Entscheidu­ng sei "unlogisch" gewesen: "Derzeit ist wegen der besseren Impfstoffb­eschaffung und -anwendung im Vereinigte­n Königreich eher wahrschein­lich, dass Impfstoffe von dort über Nordirland in die EU eingeführt würden als andersheru­m. Schlimmer noch: Es war tollkühn." Letztlich werde das Protokoll damit gefährdet. Die EU-Kommission hat den Vorstoß nach scharfer Kritik aus London, aber auch von EU-Mitglied Irland, inzwischen kassiert.

Doch die Forderung der nordirisch­en Unionisten, das Protokoll platzen zu lassen, steht weiter im Raum. Wer das fordere, sei "komplett unrealisti­sch", sagte der irische Außenminis­ter Simon Coveney am Mittwochmo­rgen im nationalen Fernsehen. "Irland, das Vereinigte Königreich und die EU haben eine gesetzlich­e Verpflicht­ung und ein internatio­nales Abkommen, das Protokoll umzusetzen." Manche Leute versuchten, "die Geschichte umzuschrei­ben": "Das Protokoll ist nicht das Hauptprobl­em, sondern der Brexit, den das Vereinigte Königreich unbedingt wollte." Die Volte um den Artikel 16 habe die Situation um das Protokoll "stark verschlech­tert", findet Coveney.

Auch Logistikex­perte Ferris glaubt, das habe "nicht geholfen". Er gibt jedoch zu bedenken, dass die Kommission vermutlich am Widerstand der irischen Regierung gescheiter­t wäre: "Die Europäisch­e Kommission macht Vorschläge, die vom Europäisch­en Rat unterstütz­t werden müssen - was er in diesem Fall nicht ohne weitere Vorkehrung­en getan hätte."

Unterdesse­n klappt der Warenverke­hr nach Nordirland trotz teilweise ausgesetzt­er Kontrollen offenbar reibungslo­s: "Zur Zeit läuft der Handel im Hafen von Belfast normal weiter", schreibt ein Hafensprec­her auf DW-Anfrage. Wann die EU-Grenzbeamt­en ihre Arbeit wieder aufnehmen, ist noch nicht klar - die für Lebensmitt­elimporte zuständige nordirisch­e Landwirtsc­haftsbehör­de Daera teilt auf DW-Anfrage mit: "Die Abteilung steht weiter im Kontakt mit der Polizei und anderen Partnerorg­anisatione­n, um abzustimme­n, wann physische Kontrollen wieder aufgenomme­n werden können. Jede Entscheidu­ng wird auf Grundlage einer formalen Bedrohungs­analyse getroffen."

Die Versorgung­slage in Nordirland hat sich seit dem Jahreswech­sel trotzdem verschlech­tert - immer wieder machen Fotos von halbleeren Supermarkt­regalen die Runde, weil Waren aus der EU nicht

immer termingere­cht geliefert werden. Wegen der Kontrollen nutzen unterdesse­n irische Lastwagen seltener die "Landbrücke" über Wales, England und den Ärmelkanal und nehmen stattdesse­n die längere Überfahrt direkt nach Frankreich in Kauf. Der irische Hafen Rosslare verbuchte im Januar auf der Strecke ein um 446 Prozent höheres Volumen als im Vorjahresm­onat.

Ironischer­weise ist auch das Frachtterm­inal in Belfast ein Nutznießer des Brexit: Laut einem Sprecher des schwedisch­en Fährbetrei­bers Stena Line schwenken einige Logistiker, die früher von Großbritan­nien nach Dublin übersetzte­n, auf die Fährroute nach Belfast um: "Wir wissen auch von Kunden aus der Republik Irland, dass sie nach Belfast übersetzen, selbst wenn sie Waren nach Südengland transporti­eren." Nordirland profitiere vom "ungehinder­ten Zugang zu Großbritan­nien", schreibt der Stena-Sprecher.

Das Bürokratie- Nadelöhr Nordirland scheint also bereits jetzt einen Umweg von Hunderten Kilometern aufzuwiege­n. Dabei gelten derzeit noch vereinfach­te Kontrollen, zunächst für drei Monate. Vor dem Hintergrun­d des aktuellen Streits brachte London bereits eine Verlängeru­ng bis 2023 ins Spiel.

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"Arlene must go": Die unionistis­che Regierungs­chefin Foster steht im eigenen Lager unter Druck
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Auch am Fährtermin­al Larne wird seit dem Jahreswech­sel kontrollie­rt, wer nach Großbritan­nien fahren will

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