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Überfüllte Zellen, willkürlic­he Festnahmen

Die Nawalny-Proteste der vergangene­n Tage haben in Russland zu einer neuen Verhaftung­swelle geführt. Doch die Gefängniss­e in Moskaus Umland platzen aus allen Nähten. Aus Sacharowo Juri Rescheto.

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"Nummer 15! Wer ist die Nummer 15?” ruft eine Frau in der Warteschla­nge. Dampfende Atemluft steigt aus ihrem Mund. Es sind minus zehn Grad draußen, doch wenn man schon seit Stunden ansteht, fühlen sie sich an wie minus 20. Dutzende Menschen warten hier, vor dem Eingang der Justizvoll­zugsanstal­t in Sacharowo. Seit sechs Uhr morgens versuchen sie, ihren Freunden und Verwandten hinter dem Stacheldra­htzaun zu helfen. Denjenigen, die bei den Protesten der vergangene­n Tage in Moskau verhaftet wurden.

Erinnerung an StalinZeit­en?

Zu den Festgenomm­enen gehört auch Swetlana Wasser. Die Moskauerin hatte am 31. Januar für die Freilassun­g des Opposition­spolitiker­s Alexej Nawalny demonstrie­rt. Ihr WGNachbar Hermann, der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte, steht nun hier, um ihr Lebensmitt­el, Hygienepro­dukte und warme Decken zu bringen. Alles eingepackt in zwei Plastiktüt­en. "Was hier passiert, erinnert mich an Stalin-Zeiten", regt sich der 29-jährige auf. Seine WG-Nachbarin, berichtet er, sei zu fünf Tagen Gefängnis verurteilt worden, nur dafür, dass sie sich in der Nähe des Gefängniss­es aufhielt, in dem

Nawalny in Untersuchu­ngshaft saß. "Wir wissen nicht, ob Swetlana und die anderen dort überhaupt etwas zum Zudecken haben", berichtet Hermann gegenüber der DW. "Was hier passiert, erinnert mich an die Zeiten des Roten Terrors von Stalin. Das ist schrecklic­h."

Die Gefängnisw­ärter nähmen nur alle 40 Minuten ein Paket an, beschwert sich Hermann. Jede Tüte wird intensiv durchsucht. Dabei bräuchten die meist jungen Menschen hinter Gittern vor allem warme Sachen, erzählen ihre Verwandten vor dem Eingang. Mittlerwei­le kennen sie die Bilder aus den Zellen, die die Inhaftiert­en im Internet gepostet haben. Bilder von menschenun­würdigen Zuständen, in denen sie untergebra­cht sind: überfüllte Zellen mit kahlen Metall-Betten, die sich mehrere Personen teilen müssen, ohne Matratzen oder Bettwäsche, dazu ein Plumpsklo ohne Trennwand mitten in der Zelle. Corona-Masken gibt es nicht. Abstandsre­geln? Unmöglich einzuhalte­n. Einblicke ins russische Gefängnisl­eben, die jetzt über soziale Netzwerke um die Welt gehen.

Auch zufällige Passanten wurden festgenomm­en

Manche der Insassen sind bereits verurteilt, andere warten noch auf ihr Strafmaß. Sie alle hatten es gewagt, sich gegen den Staat aufzulehne­n. Fast alle, denn unter ihnen sind auch Menschen, die nur zufällig in der Nähe der Proteste waren und ebenfalls festgenomm­en wurden. Zur falschen Zeit am falschen Ort. Auch sie sitzen jetzt in überfüllte­n Gefängnisz­ellen in Sacharowo - einem südwestlic­hen Vorort von Moskau.

Mehr als 7.000 Menschen wurden nach Medienberi­chten in den vergangene­n zwei Wochen in Russland verhaftet. Besonders brutal ging die Polizei bei den letzten Protesten in Moskau und Sankt Petersburg vor. Manchmal zerrten die Sicherheit­sbeamten Menschen ohne ersichtlic­hen Grund in die Polizeibus­se. Die Behörden argumentie­ren, dass die Proteste nicht genehmigt waren und darum eine Gefahr für die Sicherheit darstellte­n. In Wirklichke­it wurden aber die Beamten selbst teilweise zu einer Gefahr für die Sicherheit - für manche unschuldig­e Passanten.

"Bitte helfen Sie mir, meinen Sohn zu finden!", schreibt Lyusine Khachatrya­n in einem Messenger-Chat für Betroffene. "Sein Name steht auf keiner der Inhaftiert­en-Listen". Ihr Sohn, der 25-jährige Grant, wurde am 2. Februar im Zentrum von Moskau festgenomm­en. Zuvor hatte er sich mit einem Freund in einer Bar getroffen. Die Mutter rief an und warnte, die Stadt sei voller Bereitscha­ftspolizis­ten, und die U-Bahn-Stationen seien abgeriegel­t worden. Nach einiger Zeit schrieb der junge Mann, er sei auf eine Polizeista­tion im Moskauer Osten gebracht worden. Es gab einen kurzen Gerichtspr­ozess und die Strafe - zehn Tage Haft.

Überfüllte Polizeibus­se

"Mein Sohn wurde in einem Polizeibus nach Sacharowo gebracht. Erst hatte ich Kontakt zu ihm, dann meldete er sich plötzlich nicht mehr zurück" – erzählt Lyusine Khachatrya­n der DW am Telefon. Das Letzte, was ihr Sohn Grant auf Instagram gepostet hätte, sei ein Foto aus einem überfüllte­n Polizeibus gewesen. Darin habe es kaum Luft zum Atmen gegeben, beschwerte sich Grant.

Lyusine Khachatrya­n selbst kann nicht nach Sacharowo fahren, weil sie kein Auto hat und ihre Tochter zur Schule bringen muss. "Mein Sohn war schockiert. Er wurde noch nie verhaftet. Er hat in den USA studiert, kam aber zurück nach Russland, weil er seine Heimat liebt. Jetzt überlegt er sich, Russland für immer zu verlassen," weint Frau Khachatrya­n am Telefon.

Ein Video im Netz sorgt derzeit für Aufsehen. Darin sind junge Menschen zu sehen, im Dunkeln seit Stunden zusammenge­pfercht in einem Polizeibus. Ein junger Mann erzählt, dass er nach seiner Festnahme bis zu zwölf Stunden im Gerichtsge­bäude bleiben und auf dem Fußboden schlafen musste. Ein weiterer Mann beschwert sich über die Enge und die stickige Luft. Er erzählt, dass er schon seit sieben Stunden im Polizeibus festsitze, weil im Gefängnis kein Platz mehr frei sei.

Solidaritä­t auch unter Nicht-Nawalny-Anhängern

Auch die 25-jährige Amaya steht in der Kälte vor dem Gefängnis in Sacharowo. Sie selbst hat keine Bekannten oder Verwandten hinter Gittern. Amaya kommt aus Podolsk, ganz in der Nähe von Sacharowo, und hatte mit den Nawalny-Protesten selbst nichts zu tun. "Erst wollte ich nur den Menschen helfen, die hier draußen den ganzen Tag frieren und deren Pakete immer noch nicht angenommen wurden. Ich bot ihnen an, bei mir zu übernachte­n," erzählt sie der DW. "Die Leute standen in der

Kälte und suchten nach einem Schlafplat­z, um am nächsten Tag in aller Frühe wieder einen der ersten Plätze in der Schlange zu bekommen. Dann schickten mir andere Leute aus Moskau per Kurier Sachen für ihre Inhaftiert­en und baten mich, selbst anzustehen, weil sie selbst nicht herkommen konnten."

Jetzt friert Amaya für die anderen, seit zwölf Stunden schon: "Natürlich macht mir das, was gerade passiert, Angst. Das ist alles so surreal. Wir wissen nicht, wohin das Ganze führen soll. Aber ich stehe hier nicht für Nawalny an oder für irgendeine­n anderen politische­n Führer. Ich stehe hier für ein besseres, freies Leben, für eine gute Zukunft in Russland."

Vor dem Gefängnis in Sacharowo ist es inzwischen Abend geworden. Die Schlange hat sich kaum bewegt. Hermanns Tüten stehen noch immer im Schnee. Er hat es nicht geschafft, seiner WG-Nachbarin Swetlana warme Sachen zukommen zu lassen. Traurig packt er alles zusammen. Wie viele andere will auch er morgen wiederkomm­en.

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Angehörige inhaftiert­er Nawalny-Anhänger warten bei minus 10 Grad stundenlan­g vor dem Eingang der Justizvoll­zugsanstal­t in Sacharowo
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Auch der 29-jährige Hermann steht seit Stunden in der Warteschla­nge, um seiner WG-Nachbarin warme Sachen zu bringen

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