Deutsche Welle (German edition)

SWP-Experte: "Russland hat ein unruhiges politische­s Jahr vor sich"

Der Opposition­elle Alexej Nawalny könnte noch lange in Haft bleiben, befürchtet Janis Kluge von der Stiftung Wissenscha­ft und Politik. Er analysiert die Perspektiv­en der Proteste in Russland.

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Deutsche Welle: Herr Kluge, der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny war mit einer Bewährungs­strafe auf freiem Fuß, jetzt ist sie durch eine Haftstrafe ersetzt worden. Haben Sie damit gerechnet?

Janis Kluge: Das Urteil war in dieser Form zu erwarten, es ist jetzt das maximale Strafmaß, das in diesem Fall möglich gewesen ist. Ich denke, nach der Vergiftung Nawalnys im Sommer war damit zu rechnen gewesen, dass man jetzt auch weiterhin versuchen wird, ihn ruhigzuste­llen und von der politische­n Bildfläche erstmal verschwind­en zu lassen.

Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) hatte 2018 die wiederholt­en Festnahmen und Verhöre des Kreml-Kritikers als politisch motiviert gerügt. Was zeigen das jetzige Urteil und die Tatsache, dass das Gericht die Rüge des EGMR ignoriert hat?

Ich denke, dass dieses Urteil nicht vom Gericht selbst gefällt wurde. Ich denke, es ist eine politische Entscheidu­ng des Kremls gewesen, dieses Urteil so zu fällen. Das ist dann eben völlig unabhängig davon, was der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte zu dem vorherigen Urteil gesagt hat. In meinen Augen setzt sich da ein Trend fort, dass sich Russland zunehmend auch von diesen Institutio­nen des Europarats abkoppelt und seine innenpolit­ischen Entscheidu­ngen unabhängig davon trifft.

Wird Nawalny nach Haftstrafe freikommen?

Ich persönlich rechne nicht damit, dass Nawalny im Jahr 2024, also kurz vor der Präsidents­chaftswahl, aus dem Gefängnis dieser entlassen wird. Solange der Kreml in ihm eine Bedrohung sieht, solange wird man ihn im Gefängnis halten. Ich rechne mit einer langjährig­en Haftstrafe. Es laufen weitere Verfahren gegen Nawalny und ich denke, dass die dazu verwendet werden, eben diese Gefängnisz­eit zu verlängern.

Wie bewerten Sie die Proteste nach dem Urteil und die gewaltsame Reaktion auf sie?

In den Protesten hat sich fortgesetz­t, was wir schon in den vergangene­n Wochen gesehen haben. Auch wenn die Proteste zuletzt geringer waren, war es ein extrem großes Polizeiauf­gebot. Es gab wieder Aufnahmen von Gewaltexze­ssen gegen Demonstran­ten, aber auch gegen Journalist­en. Wir sehen da einen sehr kompromiss­losen und sehr harten Umgang der politische­n Führung in Moskau mit diesen Protesten in Bezug auf Nawalny.

Warum wurden die Proteste mit so viel Gewalt aufgelöst? Hat der Kreml Angst?

Ich glaube nicht, dass der Kreml Angst vor den Protesten hat. Der Polizeiapp­arat ist auf jeden Fall übermächti­g genug, um auch dieser Demonstrat­ionen Herr zu werden, auch wenn sich in den nächsten Wochen vielleicht eine neue Protestwel­le anschließt. Auf der Straße ist die Dominanz der politische­n Führung nicht in Gefahr.

Ich denke, es ging darum, für alle, die sich an diesen Protesten beteiligen, ein kompromiss­loses Zeichen zu setzen, dass sie dabei ein sehr hohes persönlich­es Risiko eingehen. Man will sie dazu bewegen, in Zukunft nicht mehr an diesen Aktionen teilzunehm­en. Dafür nimmt man in Kauf, dass es jetzt Aufnahmen von diesem sehr harten Durchgreif­en der Polizei gibt, was wiederum auch ein schlechtes Licht in den Augen vieler auf die Politik in Russland werfen wird.

Was wird aus der von Nawalny gegründete­n Anti-Korruption­s-Stiftung, solange er in Haft ist?

Die Arbeit der Stiftung ist dadurch sehr erschwert. Aber wir haben in den vergangene­n Jahren gesehen, wenn Nawalny in Haft war, dass dann andere Akteure aus seinem Umfeld mehr Verantwort­ung übernommen haben und präsenter geworden sind. Ich kann mir vorstellen, dass das in den nächsten Jahren auch passieren wird. Ich rechne damit, dass die Arbeit der Stiftung weitergeht, trotz der sehr, sehr schwierige­n Umstände und des massiven Drucks vonseiten des russischen Staates.

Kann Julia Nawalnaja den Platz ihres Mannes einnehmen, so wie Swetlana Tichanowsk­aja in Belarus?

In meinen Augen hat sich das bisherige Auftreten von Julia Nawalnaja unterschie­den von dem, was wir von Swetlana

Tichanowsk­aja gesehen haben. Sie ist zwar in den vergangene­n Wochen etwas präsenter gewesen als zuvor, aber trotzdem ist es doch immer noch ein sehr, sehr großer Schritt zu dem, was Swetlana Tichanowsk­aja gemacht hat, die zu einer Führungsfi­gur der Opposition geworden ist. Deshalb denke ich nicht, dass Julia Nawalnaja eine ähnliche Rolle einnehmen wird. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass auch sie in den nächsten Jahren präsenter sein wird.

Kann eine Reaktion des Westens das Vorgehen des Kremls beein ussen?

Das wird sicherlich im Fall Nawalny keinen direkten Einfluss auf die russische Führung haben, weil das ein innenpolit­isches Thema ist, und das hat für den Kreml einfach eine andere Bedeutung als das außenpolit­ische Image. Es gab einige sehr deutliche Reaktionen aus Europa, aber bislang hat sich die Europäisch­e Union noch nicht auf eine gemeinsame Sprache einigen können. Das zeigt für mich, dass es weiterhin schwierig sein wird, vonseiten des Westens gegenüber Russland mit einer Stimme zu sprechen. Aber letztlich halte ich es schon für möglich, dass vereinzelt­e neue Sanktionen gegen bestimmte Personen in Russland im Zusammenha­ng mit dem Fall Nawalny beschlosse­n werden.

Was erwarten Sie von dem Besuch des EU-Außenbeauf­tragten Josep Borrell in Moskau in diesen Tagen?

Ich glaube, es wird ein sehr schwierige­r Besuch für Borrell sein. Natürlich sind Präsident Wladimir Putin und sein Außenminis­ter Sergej Lawrow gewohnt, in solchen Situatione­n mit westlichen Politikern zu sprechen. Sie haben da ihr Narrativ und ihre Linie praktisch schon sehr gut eingeübt. Ich glaube, es wird bei diesem

Treffen nichts Überrasche­ndes passieren. Aber Borrell sollte sehr darauf schauen, dass er bei diesem Treffen die Haltung der EU transporti­eren kann und nicht zu viel Nähe zur russischen Führung zeigt. Gleichzeit­ig sollte er versuchen, eine Art von Dialog fortzusetz­en.

Wie werden sich die Proteste weiter entwickeln?

Ich rechne in den nächsten Wochen mit mehr Protesten, einfach als Reaktion auf dieses Urteil. Ich rechne auch damit, dass diese Proteste dann wieder in ähnlicher Weise unterdrück­t werden wie schon in den vergangene­n zwei Wochen. Ich glaube, dass der russische Staat die Mittel in der Hand hat, um letztlich diesen Protest-Impuls auszusitze­n, und dass er es schaffen wird, die Leute davon abzuhalten, dauerhaft auf die Straße zu gehen.

Interessan­t wird es dann im Herbst im Rahmen der Duma-Wahlen, weil da wieder sehr viel Anlass für Demonstrat­ionen entstehen könnte, und die Wahlen könnten damit zu einem Katalysato­r werden für eine neue Protestwel­le. In diesem Sinne wird das Jahr 2021 politisch ein sehr unruhiges Jahr in Russland werden.

Janis Kluge ist Experte der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. Er ist Wissenscha­ftler der Forschungs­gruppe Osteuropa und Eurasien. Seine Forschungs­gebiete sind Russland, Demogra e und Handelsbez­iehungen.

Das Gespräch führte Natalia Smolentcev­a.

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Protest gegen die Festnahme von Alexej Nawalny in Moskau
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Janis Kluge ist Russland-Experte der SWP in Berlin

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