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Meinung: Die Impfstrate­gie der EU - Propaganda und Fakten

Die EU-Kommission steht heftig in der Kritik, viele wollen es in Sachen Imstoffbes­chaffung dieser Tage schon immer besser gewusst haben. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, meint dagegen Georg Matthes.

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Fehlinform­ationen und vorschnell­e Urteile sind in Zeiten von Krisen ein Gift, dass sich besonders schnell im Körper verbreitet. Was soll die EU nicht alles verbrochen haben: viel zu wenig Impfdosen bestellt, auf den falschen Impfstoff gesetzt und dann noch die Hersteller verprellt. Bestenfall­s im Sommer 2025 seien so 70 Prozent der Gesamtbevö­lkerung geimpft.

Geht's noch? Wir alle haben Lockdown und Homeoffice gewaltig satt. Und selbst das Licht am Ende des Tunnels verbessert die Laune nicht. Im Gegenteil. Dennoch: Die vielfache Kritik an Europas Impfstrate­gie ist mehr als überzogen.

Gang setzen.

Und damit wären wir bei Großbritan­nien, dem Meister aller Exits. Dabei lohnt es sich aber immer Propaganda von Fakten zu trennen. Es gibt drei ganz einfache Gründe warum Großbritan­nien derzeit vorne liegt:

Erstens haben sich die Briten für eine Notzulassu­ng entschiede­n und sind damit schneller aus den Startblöck­en gekommen. Das haben aber die 27 EU-Länder ganz bewusst in Kauf genommen, denn allen war wichtig, dass die Firmen zumindest einen Teil der Verantwort­ung tragen, wenn beim Impfen der Menschen etwas schief gehen sollte.

Zweitens haben sich die Briten - anders als die EU - dafür entschiede­n, keine Rücklagen für eine zweite Impfdosis zu bilden. Sie nehmen damit in Kauf, nicht nach drei oder vier Wochen, sondern erst nach drei oder vier Monaten ein zweites Mal zu impfen. Das ist ein mutiger und richtiger Schritt. Auch der deutsche Gesundheit­sminister hat jetzt ins Spiel gebracht, zumindest den AstraZenec­a Impfstoff ohne Rücksicht auf die zweite Dosis an unter 65Jährige abzugeben.

Im Lichte des gegenwärti­gen EU-Bashings aber sollte man die Gegenargum­ente betrachten: Die Mitgliedsl­änder haben sich bewusst gegen diesen Kurs entschiede­n, weil sie fürchteten, dass sich das Virus dadurch schneller an den Impfstoff anpassen könnte. Sie wollten lieber auf Nummer Sicher gehen.

Drittens hatten die Briten einfach Glück. Allen voran Boris Johnson, der den Umstand beim Impfen vorne zu liegen maximal ausschlach­tet: Seht her, der Brexit hat sich gelohnt, ist seine Botschaft. Glaubt man dem Pharmaries­en AstraZenec­a, hatte die EU einfach das Pech, dass ausgerechn­et in einem europäisch­en Werk Produktion­sprobleme auftraten. Die Frage freilich, ob dieser Umstand in einem globalen Unternehme­n nicht auch auf alle Kunden gleichmäßi­g Auswirkung­en haben müsste, steht auf einem anderen Blatt.

Natürlich sind auch Fehler gemacht worden. Impftermin­e wurden zu früh vergeben und auch in Brüssel lief nicht alles rund. Die Kommission­spräsident­in hat beispielsw­eise eingeräumt, dass man mehr Geld in den Aufbau von Produktion­skapazität­en hätte stecken können. Das stimmt zwar, setzt aber voraus, dass sich Firmen dann auch an Liefervert­räge halten. Seit Dezember wird der in Belgien von Pfizer/ Biontech hergestell­te Impfstoff nach Großbritan­nien geliefert. Die von der EU vorfinanzi­erten Dosen von AstraZenec­a dagegen lassen nach wie vor auf sich warten. Warum hat die EU dann 336 Millionen Euro investiert?

Und zu dem Vorwurf, die EU hätte locker mehr Geld ausgeben sollen: Was hätten diese Kritiker gesagt, wenn viele Impfstoff- Entwicklun­gen gar keinen Erfolg gehabt hätten und Brüssel Milliarden in den Sand gesetzt hätte? Wenn Anlagen bereit stünden für die Massenprod­uktion, aber kein brauchbare­r Impfstoff? Die EU hat genau das getan, was die Mitgliedst­aaten seit Jahren fordern: Seid effizient und werft in Brüssel nicht mit unserem Geld um euch!

Mit gesunder Selbstkrit­ik hat das alles nichts mehr zu tun. Blickt man auf die Liste der inzwischen zweimal, also vollständi­g Geimpften in der EU, sieht die Welt schon anders aus. Der Arzt und Europaabge­ordnete Peter Liese hat festgestel­lt, dass EU-Länder wie Deutschlan­d oder Italien vor den Briten und weit vor Japan oder Kanada liegen.

Dank jahrelange­r Forschungs­finanzieru­ng durch die EU sind wir in der komfortabl­en Lage, jetzt gleich mehrere Impfstoffe zu haben. Und immer weitere kommen hinzu.

Es war immer klar, dass das erste Vierteljah­r 2021 hart werden würde. Wir sollten die Zeit nutzen, um alles vorzuberei­ten für die kommenden Impfstoffe. Jammern ist eine Verschwend­ung von Energie, überzogene Kritik kontraprod­uktiv. Und an dieser Stelle lässt sich von den Briten einiges lernen. Zum Beispiel 24 Stunden an sieben Tagen die Woche zu impfen, sobald genug Vakzin da ist. Dann kann auch die EU im späteren Frühjahr eine steile Impfkurve hinlegen und zeigen, dass Solidaritä­t und Gründlichk­eit durchaus zum Erfolg führt.

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 ??  ?? Georg Matthes ist DW-Korrespond­ent in Brüssel
Georg Matthes ist DW-Korrespond­ent in Brüssel

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