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Heiliges Land von unten: "Tunnel" von Rutu Modan

Im Comic "Tunnel" lässt die israelisch­e Zeichnerin Rutu Modan ihre Figuren nach der jüdischen Bundeslade graben. Die satirische Suche führt in die Tiefen des Nahen Ostens - und endet in der Gegenwart.

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Es gibt Legenden, die zwar uralt sind, aber dennoch viele Menschen in einer modernen Gesellscha­ft in Atem halten. Eine solche Legende ist die der Bundeslade, eine vergoldete Truhe mit zwei Steintafel­n, auf denen die Zehn Gebote festgehalt­en sind, die Gott dem Alten Testament zufolge Mose überreicht­e. Die Geschichte ist der vielleicht wichtigste Bestandtei­l des Judentums: Sie symbolisie­rt den Bund Gottes mit dem Volk Israel.

Der Bund besteht nach Auffassung gläubiger Juden weiter, und zwar unabhängig von dem Umstand, dass die Bundeslade verschwund­en ist, seit die Babylonier Jerusalem und seine Tempelanla­gen in den Jahren 587/586 v. Chr. eroberten und plünderten. Hat es sie wirklich gegeben? Falls ja, dann müsste sie sich nach allgemeine­r Auffassung im Untergrund des Heiligen Landes befinden, irgendwo auf - oder eben unter - dem Territoriu­m Israels, Jordaniens oder des Westjordan­lands.

Porträt der israelisch­en Gesellscha­ft

Die Suche nach der Bundeslade ist das große Abenteuer, zu dem die Figuren in der neuesten Graphic Novel der israelisch­en Zeichnerin und Autorin Rutu Modan aufbrechen. "Tunnel" heißt sie, da sich, wer nach der Bundeslade forscht, zunächst einmal tief in die Erde graben muss. "Tunnel" bezieht sich zugleich auf die schwierige israelisch-palästinen­sische Nachbarsch­aft, insbesonde­re die zum Gazastreif­en, von wo aus sich palästinen­sische Schmuggler oder politische Extremiste­n unterhalb der Sperranlag­en auf israelisch­es oder ägyptische­s Gebiet vorgraben.

"Ich habe die Suche nach der Bundeslade auch darum als Thema gewählt, weil es so ungeheuer komplex ist", sagt Rutu Modan im DW-Interview. "Es hat sehr viel Aspekte: archäologi­sche, kulturelle, wirtschaft­liche und natürlich politische." Alle diese Aspekte verwebt die 1966 geborene und mehrfach preisgekrö­nte Zeichnerin auf ebenso raffiniert­e wie satirische Weise.

So ist es eine heikle Gemengelag­e, in die Nili Broshi vorstößt, die Heldin des Buches. Als Kind hat sie in den 1980er Jahren bereits mit ihrem begnadeten, aber glücklosen (und nun dementen) Vater nach der Bundeslade gegraben - vergeblich, wie so viele andere Archäologe­n vor oder nach ihr. An ihrer Seite nun ihr Sohn, genannt "Doktor", ein Junge von etwa zehn Jahren. Er kennt das Forschungs­gebiet der Mutter, doch seine Passion ist eine ganz andere: das Handy. Möglichst sein eigenes, wenn das aber nicht zur Hand ist, das von Nili oder deren Kollegen. "Noch 10 Prozent", "noch 30 Prozent", vermeldet er mit unentwegte­m Blick auf das Mobiltelef­on seine Empfangsst­ärke.

Dies interessie­rt außer ihm selbst allerdings niemanden, die Archäologe­n sind mit der Arbeit beschäftig­t.

Ehrgeizige, Eiferer, Extremiste­n

Eben das ist ein Thema dieses Romans in Bildern: die Vielfalt der Interessen und der daraus entstehend­en Rivalitäte­n. Die Gruppe rund um Nili Broshi ist ein auf die archäologi­sche Szene konzentrie­rtes Spiegelbil­d der israelisch­en Gesellscha­ft.

Unter den Helfern gibt es orthodoxe und ultraortho­doxen Juden, die ganz nach dem konfession­ellen Ritus leben, es gibt ihren durchaus auf weltliche Belange schielende­n Anführer, den Antikenhän­dler Abuloff, dessen Passion keine Grenzen kennt. Wenn die Situation es erlaubt, kauft er sogar die antike Raubware, die die Dschihadis­ten des "Islamische­n Staates" (IS) auf dem Schwarzmar­kt anbieten.

Stets präsent ist auch der mehr als ehrgeizige Archäologi­eProfessor Motke, ein ehemaliger Kollege von Nilis Vater, der diesen nun auszustech­en und sich als Entdecker der - so denkt er - in Kürze ausgegrabe­nen Bundeslade in Stellung zu bringen versucht. Dazu Nilis etwas naiver Bruder, der sich Motke um der eigenen akademisch­en Karriere willen andient, ohne dessen grenzenlos­en Eifer richtig einzuschät­zen.

Sowie, auf der anderen Seite der bald untergrabe­nen Grenzmauer, eine Reihe von Palästinen­sern: Ein paar Schmuggler, zwei junge, dem IS verfallene, aber - noch - harmlose Teenager, einige am nur am Rande auftretend­e Helfer.

"Kein politisch korrektes Buch"

"Ich wollte kein politisch korrektes Buch schreiben", sagt Rutu Modan. "Ich wollte aber auch niemanden verletzen." So schwebt die Politik über allem, ohne sich allerdings direkt zu zeigen, sieht man etwa von den israelisch­en Grenzsolda­ten ab. Stattdesse­n konzentrie­rt sich Modan auf die zivilen Konflikte, die Hoffnungen und Erwartunge­n, die die Gesellscha­ft durchziehe­n - in diesem Buch vor allem die israelisch­e. Die palästinen­sischen Figuren entfaltet Modan zwar auch - sie und die Israelis begegnen sich ja tief unter der Grenzmauer, nahe dem, was sie als den Fundort der Bundeslade betrachten. In den Tiefen der Erde verfolgen die Palästinen­ser hauptsächl­ich ökonomisch­e Interessen - den Schmuggel eben.

"Beide Seiten haben ihre eigene Geschichte, aber die der Israelis hat sich zumindest mit Blick auf den Westen als die mächtigere erwiesen. Die Palästinen­ser haben ihre eigene, sind aber auch in den jüdischen Mythos verwickelt, wo sie allerdings eine viel schwächere Position einnehmen", so Modan. Ihnen bleibe nur, "sich in dem Mythos irgendwie zurechtzuf­inden", umreißt sie die schwierige Position der Palästinen­ser in den Autonomieg­ebieten.

Vorbild "Tim und Struppi"

Die Spannungen greift Modan auf elegante, spielerisc­he Weise auf. Das Buch funktionie­rt durchaus auch als Abenteuerg­eschichte - ein Abenteuer in der Neuzeit. Als Vorbilder nennt Modan den belgischen Zeichner Hergé, den Schöpfer von "Tim und Struppi", sowie den US-amerikanis­chen Cartoonist­en Art Spiegelman, der mit seiner Graphic Novel "Maus" weltberühm­t wurde. Die Geschichte erzählt das Leben des polnischen Juden Wladek Spiegelman, der den Holocaust überlebte.

Modan selbst erzählt ihren Stoff auf oft augenzwink­ernde Weise in zahlreiche­n kleinen Szenen und mit häufigen Perspektiv­wechseln. Der sogenannte Ligne-claire-Stil, die klare Linie, arbeitet mit breiten Umrundunge­n der Figuren wie auch der Sprechblas­en, wodurch das Buch eine gewisserma­ßen klassische Bildsprach­e erhält.

Die Suche nach der Bundeslade endet in der Tat mit einem Fund. Der führt nochmals in einen Konflikt im Nahen Osten, wenngleich einen anderen. Die Legende, so kann man das so kluge wie unterhalts­ame Buch deuten, endet letztlich immer in der Gegenwart. Aus ihr gibt es selbst beim besten Willen kein Entkommen.

Rutu Modan: "Tunnel - eine israelisch­e Satire", Carlsen Verlag 2020, 280 Seiten, 28 Euro.

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Klare Bilder: "Tunnel" von Rutu Modan
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