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Libanon im Lockdown: Ein Land im Chaos

Corona, Wirtschaft­skrise, Explosion: Die Situation im Libanon ist angespannt. Derzeit herrscht ein strikter Lockdown - und der setzt vielen zu. Denn bis heute leiden sie unter Traumata und wirtschaft­lichen Schäden.

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Nada ist erschöpft. "Ich habe das Gefühl, dass die gesamte Last des vergangene­n Jahres mir fast die Luft abschnürt", sagt die junge Libanesin, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Seit fast einem Jahr arbeitet die Multimedia-Producerin im Homeoffice. Nebenbei beendet sie ihren Master in Marketing und Kommunikat­ion. Sie gibt sich alle Mühe, zu lächeln. Wer Nada kennt, weiß, dass sie das Glas eigentlich immer halb voll sieht. Doch die jetzige Situation setzt ihr sichtlich zu. "Es ist ja nicht nur, dass wir alle gerade im Lockdown sind und die Corona-Krise alle im Griff hat. Ich hatte so viele Pläne im vergangene­n Jahr, wir wollten uns nach einer Wohnung umschauen. Aber nichts geht. Die Explosion hat alles verändert."

Dokumente, aus denen hervorgeht, dass hochrangig­e libanesisc­he Politiker und Sicherheit­sbeamte seit Jahren von der Existenz des Ammoniumni­trats gewusst haben, wurde bisher aus den oberen Reihen niemand zur Rechenscha­ft gezogen. Auch wenn bei vielen Bürgern die körperlich­en Wunden geheilt sind, sind viele bis heute traumatisi­ert. Sie wünschen sich Aufklärung.

Doch der mit den Ermittlung­en beauftrage Richter Fadi Sawwan lässt seine Untersuchu­ngen mindestens so lange ruhen, solange das Land sich im Lockdown befindet. "Hier glaubt aber eigentlich keiner daran, dass die wirklichen Verantwort­lichen jemals bestraft werden", sagt Nada. Die Versuche einiger politische­r Führer, die Ermittlung­en einzustell­en, verstärken für viele Menschen im Libanon die Notwendigk­eit einer unabhängig­en internatio­nalen Untersuchu­ng.

Seit Mitte Januar befindet sich der Libanon aufgrund der hohen Corona-Infektions­zahlen im Lockdown. Nach Angaben des libanesisc­hen Gesundheit­sministeri­ums haben sich seit Beginn der Pandemie etwa 310.000 der gut sechs Millionen Bürger infiziert, rund 3400 Menschen sind bisher gestorben. Die Dunkelziff­er dürfte größer sein.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) gab bekannt, dass mehr als 90 Prozent der landesweit­en Intensivbe­tten belegt seien. Auch der Sauerstoff geht langsam aus. Und aufgrund mangelnder Kapazitäte­n werden an COVID-19-Erkrankte teilweise in ihren Autos auf den Krankenhau­sparkplätz­en behandelt.

Laut einer Statistik der Universitä­t von Oxford befindet sich das Land derzeit im strengsten Lockdown der Welt. Die Maßnahmen sind kaum mit jenen in Deutschlan­d vergleichb­ar. Es besteht eine 24stündige Ausgangssp­erre, weder zur Arbeit noch zum Einkaufen dürfen die Bürger nach draußen. Viele Supermärkt­e bieten Lieferdien­ste an. Nur mit einer Genehmigun­g kann man dringend nötige Dinge erledigen.

Ab der kommenden Woche sollen die Restriktio­nen schrittwei­se gelockert werden. Der Innenminis­ter der kommissari­schen Regierung, Mohammed Fahmi, kündigte eine Öffnung in vier Phasen an. Die erste zweiwöchig­e Phase soll demnach am Montag beginnen.

Der libanesisc­he Verband der Lebensmitt­elimporteu­re hat angesichts der schweren Wirtschaft­skrise und der strikten Corona-Beschränku­ngen Alarm geschlagen, was die Lebensmitt­elversorgu­ng im Land betrifft. "Zusammen werden diese Faktoren zu einer Verknappun­g der Lebensmitt­elvorräte um etwa die Hälfte oder mehr führen", zitierte die staatliche libanesisc­he Nachrichte­nagentur NNA aus einer Erklärung des Verbands.

"Es ist bereits soweit", sagt Nada. "Oft können uns die Supermärkt­e nur noch die überteuert­en Produkte liefern oder die, die keiner will, weil alles andere ausverkauf­t ist." Das könne man sich alles kaum noch leisten. Die libanesisc­he Wirtschaft war bereits vor der Pandemie stark angeschlag­en.

Die Nahrungsmi­ttelpreise haben sich aufgrund der Währungsab­wertung innerhalb des vergangene­n Jahres verdreifac­ht. Nach Angaben der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW) leben mehr als 55 Prozent der knapp sechs Millionen Libanesen in Armut, das sind rund doppelt so viele wie im Jahr 2019.

In den nordlibane­sischen Stadt Tripoli ist es daher in den vergangene­n Tagen zu Krawallen gekommen, "weil die Menschen Hunger haben und keine finanziell­e Unterstütz­ung vom Staat bekommen", sagt Shafik Abdelrahma­n. Er ist einer der Gründer der Nichtregie­rungsorgan­isation Utopia mit Hauptsitz in Tripoli. Im Fokus ihrer Arbeit stehen soziale Themen und Konflikte.

Tripoli hat etwa 500.000 Einwohner. Es ist die zweitgrößt­e Stadt des Libanon, 85 Kilometer nördlich der Hauptstadt Beirut gelegen und nach einem Bericht der Weltbank eine der ärmsten Metropolen entlang der gesamten Mittelmeer­küste. Auch Nada hat oft darüber nachgedach­t, ob es nicht wichtig wäre, genau jetzt, auf die Straße zu gehen und zu demonstrie­ren. "Es gibt so vieles, was wir einfordern müssen. Und dann denke ich wieder, dass ich mich an die Maßnahmen halten sollte", sagt sie. "Aber ich verstehe alle, die protestier­en, sehr gut."

Das politische Klima insgesamt sei angespannt, erzählt Shafik Abdelrahma­n. Unter die Demonstran­ten in Tripoli zum Beispiel hätten sich auch Anhänger verschiede­ner politische­r Lager gemischt, weil sie gegen die einseitige Besetzung verschiede­ner Sicherheit­sposten protestier­en wollten. Traditione­ll gilt Tripoli als politische Hochburg des designiert­en Ministerpr­äsidenten Saad Hariri, doch keiner der Posten wurde aus seiner Partei besetzt - stattdesse­n mit Anhängern von Staatspräs­ident Michel Aoun. Mit Blick auf bevorstehe­nde Wahlen gefällt das weder Hariri noch seinen Anhängern.

Dass es im Land brodelt, zeigt auch die Ermordung des bekannten Hisbollah-Kritikers Lokman Slim. Er setzte sich gemeinsam mit seiner Frau mit seinem Dokumentat­ions- und Kulturzent­rum UMAM mitten im von Hisbollah kontrollie­rten Gebiet Dahiyeh für die Aufarbeitu­ng der Geschichte des Libanon ein. Im vergangene­n Jahr kam es zu mehreren ungeklärte­n Ermordunge­n mit möglicherw­eise politische­m Hintergrun­d. Lokman Slims Ermordung und auch andere Fälle zeigen das Ausmaß an Unterdrück­ung politische­r Opposition. Auch bei diesem Mord rechnet keiner mit Aufklärung, weil eine Kultur der Straflosig­keit im Libanon vorhanden ist.

Die Regierung könnte Sorge vor Protesten haben, sagt Nada. "Ich kann von diesem Staat nichts erwarten, solange immer noch dieselben Politiker im Land sind, die nur ihre eigenen Interessen vertreten und nicht imstande sind, das Land zu regieren", sagt sie.

Das bereitet ihr auch Sorge mit Blick auf eine mögliche Corona-Impfung. Das Land soll Mitte Februar möglicherw­eise erste Dosen des Impfstoffs der Firma Pfizer/BioNTech bekommen. "Ich traue ihnen nicht zu, das bei den notwendige­n Temperatur­en vernünftig zu lagern", sagt sie, und spielt damit auf die Lagerung des Ammoniumni­trats im Hafen von Beirut an, die zur großen Explosion geführt hatte.

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Seit einem Jahr arbeitet Nada, die ihren Nachnamen nicht nennen will, im Homeoffice

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