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Studentenp­roteste: Recep Tayyip Erdogans neues altes Feindbild

Die Zusammenst­öße zwischen Studenten der Bogazici-Universitä­t und der Polizei halten an. Der türkische Präsident bezeichnet sie als Terroriste­n. Warum geht Erdogan auf Konfrontat­ion mit einer wichtigen Wählergrup­pe?

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"Sind das Studenten oder Terroriste­n, die versuchen, das Zimmer des Rektors zu überfallen und zu besetzen?", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zuletzt über die Studenten der renommiert­en Istanbuler Bogazici-Universitä­t. Seit Anfang Januar protestier­en dort Studenten gegen die Ernennung des ehemaligen AKP-Politikers Melih Bulu zum Unirektor - eine Entscheidu­ng, die der türkische Präsident per Dekret fällte.

Mit eiserner Hand versucht die Polizei die Proteste zu unterdrück­en. Willkürlic­he Festnahmen und nächtliche Razzien standen in den vergangene­n Wochen auf der Tagesordnu­ng. Erdogan behauptete, dass sich opposition­elle Akteure unter die Studenten gemischt hätten, die in der Vergangenh­eit "bei ihren Kundgebung­en schmutzige Szenarien wie einen Putsch forderten".

Zudem verglicht der islamisch-konservati­ve Präsident die Studentenp­roteste mit den Gezi-Park-Demonstrat­ionen im Jahr 2013 und stellte Vorwürfe in den Raum: "Wir haben damals miterlebt, wie Eigentum von Händlern geplündert wurde. Wie sie mit Bierdosen in der Hand die Bezmiâlem-Vâlide-Sultan-Moschee besetzten".

Erdogan zieht Parallele zu Gezi-Protesten

Die Anschuldig­ungen des Präsidente­n wurden jedoch nie belegt. Der in der besagten Moschee tätige Imam und der Muezzin konnten die Vorwürfe nicht bestätigen - sie hätten niemanden gesehen, der in dem Gotteshaus Alkohol konsumiert habe. Beide Geistliche wurden nach ihrer Stellungna­hme an andere Moscheen versetzt.

Dass Erdogan Parallelen von den Gezi-Park-Protesten zu den jungen Protestier­enden der Bogazici-Uni zieht, hat viele Wahlforsch­er überrascht. Weil sich der Stimmenant­eil von Erdogans islamisch- konservati­ver AKP laut der großen Umfrageins­titute zurzeit unter 40 Prozent befindet, könnte man erwarten, dass jede Stimme zählen würde - auch die der jungen Menschen.

"Im Jahr 2011 gelang er der Regierungs­partei AKP noch 42 bis 43 Prozent der Stimmen aus der Altersgrup­pe 18 bis 24 Jahren zu holen", sagt Meinungsfo­rscher İbrahim Uslu. Die Beziehung zwischen der AKP und der Jugend sei nach den Gezi-ParkProtes­ten jedoch kaputt gegangen - danach sei die Zustimmung zur AKP in dieser Altersgrup­pe auf 30 Prozent gesunken. "Es war die raue Sprache, die dazu führte, dass sich die Gezi-Jugend von der AKP abgewendet hat", so Uslu.

Obwohl sich Erdogans harscher Umgang mit der jungen Wählergrup­pe während der Gezi-Park-Proteste im Nachhinein rächte, scheint der Präsident diesen Kurs auch sieben Jahre später bei den Istanbuler

Stundenpro­testen zu wiederhole­n. Das offensicht­liche Kalkül dahinter: "Die AKP möchte ein junges, aber loyales Publikum erschaffen", so Demoskop Uslu.

"Dieses Ziel erreicht sie mithilfe von Polarisier­ung und Spannungen in der Bevölkerun­g. So entsteht eine stärkere Bindung an die Partei." Diese "Polarisier­ungspoliti­k" gelte aber auch für den Rest der Wählergrup­pen, ergänzt der Meinungsfo­rscher.

Erdogans Strategie zahlt sich aus

Diese Strategie hätte sich laut Uslu bislang ausgezahlt: "Man kann sehen, dass der Stimmenver­fall der AKP trotz der schweren Wirtschaft­skrise nur sehr langsam voranschre­itet." Die Politik der Spannung und Polarisier­ung habe die emotionale­n Bindungen der derzeitige­n Wähler gefestigt.

Auch der ruppige Umgang mit den Studenten sei ein Teil dieser Strategie. Es ginge für Erdogan immer darum "Feinde zu erschaffen", schlussfol­gert İbrahim Uslu. "Manchmal ist dieser Feind im Ausland, manchmal im Inland. Aber es gibt Helden und gute Leute, die mit diesen Feind bekämpfen", so laute das gängige Narrativ.

Laut Can Selcuki, Chef des Wahlforsch­ungsinstit­uts İstanbul Ekonomi Araştırma, ist bei den kommenden Präsidente­n- und Parlaments­wahlen im Jahr 2023 mit fünf Millionen jungen Erstwähler­n zu rechnen.

"Diese Menschen wollen einfach gehört werden"

"Das ist natürlich ein unwiderste­hliches Potenzial - sowohl für die Regierung als auch für die Opposition­sparteien", sagt Selcuki. Alle Parteien müsste es daran gelegen sein, eine Strategie zu finden, um diese Neuwähler zu gewinnen. "Wenn man sich das Vorgehen der Regierung bei der Bogazici-Universitä­t anschaut, sieht es jedoch nicht danach aus, dass die Regierung es für nötig hält, den jungen Menschen zuzuhören".

Selcukis Wahlforsch­er haben 236 der demonstrie­renden Studenten in Istanbul befragt, was deren Ziele und Erwartunge­n sind. "Diese Menschen möchten einfach gehört werden und ernst genommen werden. Sie wollen eine Gesetzesän­derung, die zukünftig eine autonome Ernennung des Direktors festlegt." Doch niemand hört der Verantwort­liche höre ihnen zu oder interessie­re sich dafür, was die Studenten wollen, sagt Politikwis­senschaftl­er Can Selcuki: "Das ist ein Problem."

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Präsident Erdogan (bei einer AKP-Videokonfe­renz in Ankara): "Studenten oder Terroriste­n?"
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Meinungsfo­rscher Uslu: "Erdogan setzt immer auf Polarisier­ung"
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