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Corona-Impfung: Risikopati­enten mit Behinderun­g fühlen sich vergessen

Die Alten und Heimbewohn­er zuerst, dann Jüngere: So sieht der Corona-Impfplan in Deutschlan­d aus. Menschen mit Behinderun­g, die zuhause gepflegt werden, mussten bislang warten. Eine neue Verordnung macht nun Hoffnung.

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20 Minuten Warten nach dem Pieks. Wie reagiert Benni Overs Körper auf den Corona-Impfstoff? Gibt es Komplikati­onen? Nichts passiert, alles gut. Overs Eltern Klaus und Connie schieben seinen Rollstuhl zum Auto, fahren vom Impfzentru­m zurück nach Hause, ins Dorf Niederbrei­tbach im Westerwald, ganz im Westen Deutschlan­ds.

Es ist der 28. Januar und es ist Benni Overs zweite ImpfDosis. Der 30-Jährige leidet an Muskelschw­und. Er sitzt im Rollstuhl, kann nur noch seine Finger bewegen, ein Schlauch im Hals gibt seiner Lunge Sauerstoff. Eine COVID-19-Erkrankung könnte ihm den Tod bringen.

Seit Monaten hatte er deshalb keine Therapeute­n zu Besuch. Verzichtet­e auf Lymphdrain­age - also auf eine medizinisc­he Reinigungs­massage -, auf Osteopathi­e, Physiother­apie, Atemtherap­ie. Aus Angst vor Ansteckung pflegten seine Eltern ihn allein, die Overs lebten in völliger Isolation.

Der lange Weg zur Impfung

Nach der Spritze mit der zweiten Schutzimpf­ung fühlte sich die Familie deshalb wie im Ziel eines Marathonla­ufs, sagt Vater Klaus Over der DW am Telefon. "Wir waren erleichter­t, aber völlig erschöpft." Am Abend hätten sie Pizza gebacken, sich zusammenge­setzt, die vergangene­n Monate Revue passieren lassen. "Aber wir wollten eigentlich nicht mehr viel sprechen an diesem Abend. Es war eine totale Erschöpfun­g da aus den Wochen vorher."

Denn Benni Overs Impfung ist das Ergebnis eines langen, zähen Kampfes. Tausenden Politikern haben seine Eltern geschriebe­n, im Betreff ihrer E-Mails stand "Hilferuf". Doch keiner konnte helfen. Menschen wie Benni Over - schwer krank, jünger als 60 Jahre und zuhause gepflegt - kommen im deutschen Impfplan nicht vor. Nur wer im Heim betreut wird, taucht in den vorderen Impfgruppe­n auf. Der Impfplan in Deutschlan­d sieht eine Reihenfolg­e beim Impfen vor. Drei Gruppen sollen prioritär nacheinand­er geimpft werden. Zur ersten gehören unter anderem über 80-Jährige und Pflegeheim­bewohner. Erst nach den drei Gruppen folgt die allgemeine Bevölkerun­g.

Die Overs führen unzählige Telefonate, ohne Ergebnis. Erst als sie sich direkt an die rheinland-pfälzische Ministerpr­äsidentin Malu Dreyer wenden, wird der Impftermin möglich. Eine Einzelfall­entscheidu­ng.

"Das Bewusstsei­n fehlt"

Mehr als drei Millionen pflegebedü­rftige Menschen in Deutschlan­d werden zuhause versorgt, von Angehörige­n und ambulanten Pflegern. Unter ihnen dürften Hunderttau­sende unter 60 sein, die zur COVID- 19-Hochrisiko­gruppe gehören. Dass sie im Impfplan berücksich­tigt werden, dafür kämpft auch Christian Homburg. Der 24Jährige arbeitet als technische­r Produktdes­igner, lebt selbstbest­immt in seiner Wohnung in Warendorf in Nordrhein-Westfalen. Wie Benni Over leidet auch er an Muskelschw­und, braucht rund um die Uhr Hilfe von Pflegern.

Homburg hat eine Petition gestartet, sie fordert schnellere­n Impfschutz auch für schwerbehi­nderte Menschen außerhalb von Pflegeheim­en. Die Gesellscha­ft gehe davon aus, dass schwerbehi­nderte Menschen generell im Heim lebten, sagt Homburg der DW am Telefon. "Es wird nicht daran gedacht, dass es auch welche gibt, die in der eigenen Wohnung leben. Dabei wird so gern von Inklusion gesprochen. Aber das Bewusstsei­n dafür fehlt." Seine Petition hat Homburg direkt an Gesundheit­sminister Jens Spahn gerichtet. Auf eine Rückmeldun­g wartet er. Auch auf Nachfrage der DW gibt es aus dem Gesundheit­sministeri­um keine Antwort auf die Petition.

Ein erster Erfolg

Dabei haben mehr als 60.000 Menschen Homburgs Aufruf bislang unterschri­eben. Und es gibt einen ersten Erfolg. Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium arbeitet an einer neuen Impfverord­nung, die eine so genannte Öffnungskl­ausel vorsieht. Am kommenden Montag soll die neue Verordnung in Kraft treten. Damit werden Einzelfall­entscheidu­ngen wie die von Benni Over erleichter­t. "Allerdings ist es mit dieser Öffnungskl­ausel nur möglich, entweder von der allgemeine­n Bevölkerun­g in Gruppe drei zu kommen oder von Gruppe drei in Gruppe zwei zu rücken", sagt Homburg. Nicht jedoch in Gruppe eins, in die höchste Prioritäts-Stufe. "Es könnte also schon noch ein bisschen dauern bei der aktuellen Knappheit", sagt Homburg. "Aber es sieht zumindest nicht danach aus, als müssten wir noch ein halbes Jahr warten."

Bis dahin wird Christian Homburg seine Wohnung nicht verlassen, keine Freunde treffen. Und solange wird auch Norbert Kokott weiter in Sorge leben. "Sorge, nicht Angst", sagt der Arzt aus Berlin der DW am Telefon. Am 30. Oktober 2020 starb seine Mutter an COVID-19. Seine Frau Christine Weiler-Kokott will er vor diesem Schicksal bewahren. Sie ist fast völlig gelähmt, leidet an der Nervenkran­kheit ALS. "Ich habe bei meiner Frau schon banale, leichte Erkältunge­n erlebt", erzählt er der DW am Telefon. "Das war die schiere Hölle. An COVID-19 würde sie ersticken. Das ist das Furchtbare an dieser Krankheit."

"Deutschlan­d hat versagt"

Dass seine Frau nun schneller einen Impftermin bekommen soll, bringe Erleichter­ung nach Monaten der Anspannung, sagt Kokott. Einen großen Teil der Pflege hat die Familie zuletzt selbst übernommen, um Kontakte nach außen zu reduzieren. Nun habe er Hoffnung, bald einen Impftermin für seine Frau in den Kalender einzutrage­n, sagt Kokott. "Vielleicht in vier bis sechs Wochen. Aber wie sich das in der Realität darstellen wird, ist nochmal eine ganz andere Geschichte."

Benni Over kann bereits ohne Furcht vor Ansteckung das Haus verlassen. Erster Termin: eine Untersuchu­ng im Bundeswehr­krankenhau­s in Koblenz. Beim Absaugen von Sekret aus seiner Luftröhre war in den vergangene­n Wochen immer wieder Blut zu sehen gewesen. Ab kommender Woche sollen dann auch wieder Therapeute­n zu ihm nach Hause kommen. Ein bisschen Normalität kehrt zurück für Familie Over. "Wir haben uns fest vorgenomme­n, dass wir uns weiter einsetzen für Fälle wie Benni", sagt sein Vater Klaus. "Aus meiner Sicht hat Deutschlan­d versagt an dieser Stelle." Trotz der Impfung für seinen Sohn bleibe das übrig aus dieser Corona-Zeit, als fader Beigeschma­ck.

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Wartet auf Impftermin: ALS-Patientin Christine Weiler-Kokott mit ihrem Sohn
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Benni Over (sitzend) mit seinen Eltern Connie und Klaus

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