Deutsche Welle (German edition)

Griechisch­e Doppelmora­l in Corona-Zeiten

Der griechisch­e Premier Kyriakos Mitsotakis ist bei einem Mittagesse­n mit 30 Personen gefilmt worden. Er verstieß damit nicht zum ersten Mal gegen die CoronaRege­ln.

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Aliki B. paukt für die Aufnahmepr­üfung an die Uni. Sie ist 18 Jahre alt, wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleineren Bruder in Thessaloni­ki und lebt seit 101 Tagen im Lockdown. "Ich hab' keinen Bock mehr darauf", sagt sie, "mein Leben ist die Hölle. Nur lernen, lernen, lernen und mit meiner Mutter streiten".

Aliki liebt Drama. Aber vor einer Aufnahmepr­üfung ist das

Leben in Griechenla­nd tatsächlic­h stressig und die Pandemie macht alles noch schlimmer. Nur samstags konnte die genervte Schülerin kurz ausgehen, mit ihren Freundinne­n auf der Promenade flanieren. Bis 21 Uhr, dann mussten sie, wie alle anderen Bewohner, nach Hause. Sperrstund­e per Dekret seit dem 1. November.

Letzten Samstag war auch dieser Hauch von Freiheit zu Ende. Seitdem muss man am Wochenende die Straßen schon ab 18 Uhr verlassen, überall dort, wo die Infektions­zahlen hoch sind. Also im Großraum Athen und Thessaloni­ki, wo fast zwei Drittel der griechisch­en Bevölkerun­g leben.

Ausgerechn­et an diesem ersten Samstag ( 06.02.2021) der strengeren Beschränku­ngen entschied sich Premiermin­ister

Kyriakos Mitsotakis für einen Besuch auf Ikaria, einer Insel in der Ägäis, mit einer der niedrigste­n Corona-Raten im Land. Mitsotakis wollte selbst begutachte­n, wie die Impfkampag­ne dort läuft. Offensicht­lich konnte oder wollte er die Einladung des örtlichen Abgeordnet­en, eines Parteigeno­ssen aus der konservati­ven Nea Dimokratia, zum Mittagesse­n nicht ablehnen. Also setzte sich der Premiermin­ister mit seinen Mitarbeite­rn und der örtlichen Prominenz, mindestens 30 Personen, zu Tisch.

Das war ein klarer Verstoß gegen die von seiner eigenen Regierung festgelegt­en CoronaRege­ln (maximal neun Menschen am Festtisch zu Weihnachte­n, sonst nur die enge Familie) - und er wurde dabei gefilmt. Jeder normale Bürger Griechenla­nds würde wegen des Verstoßes zur Kasse gebeten. Nicht so Mitsotakis, der sich nicht einmal entschuldi­gt hat.

Die Opposition sprach von einer unverschäm­ten "Fiesta in Ikaria" - die Insel ist für ihre Volksfeste ("Panigyria") bekannt. In den sozialen Medien war die Wut groß - und die Häme auch. In den meisten Fernsehsen­dern waren diese Bilder der gebrochene­n Regeln nicht zu sehen - man munkelt, das Büro des Premiers hätte darum gebeten, sie zu ignorieren. Und das nicht zum ersten Mal.

Bereits im Dezember, als Mitsotakis beim Radfahren auf dem Mount Parnitha mit Passanten und ohne Maske fotografie­rt wurde, hatte es Versuche gegeben, den Verstoß gegen die Regeln zu verheimlic­hen. Auch damals waren die sozialen Medien voller Wut und Spott. Ein paar Tage danach gab Mitsotakis in einem TV-Interview zu, es sei "ein Moment der Nachlässig­keit" gewesen.

Schon für weniger Nachlässig­keit müssen die Menschen in Griechenla­nd 300 Euro Strafe zahlen - und sich eine strenge Predigt für ihre Unverantwo­rtlichkeit von den regierungs­nahen Medien anhören. Dieselben TV-Sender, die am Samstag die Bilder von Ikaria ignorierte­n, schickten ihre Reporter am sonnigen Sonntag an die Küste Attikas, um Spaziergän­ger zu filmen und um zu zeigen, dass diese "unverantwo­rtlichen Leute" nicht zu Hause geblieben waren.

Vielleicht gibt der Premiermin­ister wieder "einen Moment der Nachlässig­keit” zu. Aber bei der Bevölkerun­g ist die Botschaft längst angekommen: Die Regeln gelten nicht für alle. Und auch Medien nehmen ihre Kontrollfu­nktion nicht immer wahr.

Die Demokratie in Griechenla­nd leidet sowieso in der Corona-Zeit. Wie fast überall sind Grundrecht­e außer Kraft gesetzt worden, um die Gesundheit der Bevölkerun­g zu schützen. Das sehen die meisten Griechen ein. Aber die Verschleie­rung der Fehltritte von Premier Mitsotakis sendet die falschen Signale aus. Genauso wie die Fiesta von Ikaria: Wenn der Premiermin­ister und seine Gefolgscha­ft ohne Angst zusammensi­tzen und essen, dann sei wohl die Gefahr, die vom Corona-Virus ausgehe, doch nicht so groß, glauben viele. Also könne sich jeder ein bisschen Nachlässig­keit leisten.

Obwohl Disziplin nicht unbedingt als Lieblingst­ugend der Griechen gilt, waren die Hellenen erstaunlic­h disziplini­ert, als die erste Welle der Pandemie 2020 ausbrach. Die Regierung hatte einen strikten Lockdown rechtzeiti­g verhängt, wenige Menschen erkrankten, die Todesrate war niedrig. Es war ein großer Erfolg, den die Regierung Mitsotakis feiern konnte. Was folgte, waren erholsame Sommermona­te, in denen die Regierung es versäumte, das Gesundheit­ssystem und die Schulen für eine zweite CoronaWell­e vorzuberei­ten. Wie fast überall in Europa.

Die zweite Welle war viel heftiger als die erste. Doch der neue Lockdown ist nicht mehr so strikt, weil vor allem die Wirtschaft es sich nicht mehr leisten konnte. Die ohnehin arg strapazier­ten Reserven nach der langen Finanzkris­e waren wieder stärker geschrumpf­t.

Die Performanc­e der Regierung lässt diesmal nach Ansicht politische­r Beobachter zu wünschen übrig, viele Menschen sind von der Richtigkei­t der immer wieder wechselnde­n Maßnahmen nicht überzeugt - was übrigens auch keine griechisch­e Besonderhe­it ist.

Eine griechisch­e Besonderhe­it aber ist, dass diesmal die Antwort der konservati­ven Regierung auf jede Frage "mehr Polizei" ist. Kritiker der Maßnahmen handelten einfach sorglos, heißt es. Oder sie seien vom "Populismus" der Opposition "infiziert". Einer Opposition, die so unverantwo­rtlich sei, dass sie es wage, auf die Straße zu gehen - mit Masken und Sicherheit­sabständen, versteht sich. Die Proteste richteten sich gegen das Vorhaben der Regierung, mitten in der Pandemie das Universitä­tswesen zu reformiere­n und eine Uni-Polizei zu gründen.

Aliki B. hat letzte Woche auch dagegen demonstrie­rt, zusammen mit vielen ihrer Mitschüler­innen. Und am Wochenende hat sie auf Facebook ihrem Ärger Luft gemacht, als sie die Fotos vom Premier in Ikaria sah. Mit 18, sagt sie, sei ihr Gerechtigk­eitssinn noch ausgeprägt und ihre Geduld am Ende - diese Doppelmora­l könne sie nicht so einfach verzeihen. Viele Griechinne­n und Griechen - auch älteren Jahrgangs - sehen das ähnlich.

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Griechenla­nds Ministerpr­äsident Mitsotakis scheint die Corona-Regeln nicht immer ernst zu nehmen
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Die Teilnehmer des umstritten­en Mittagesse­ns - darunter Regierungs­chef Mitsotakis

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