Deutsche Welle (German edition)

Das Fleisch-Paradox: Warum wir Tiere töten, obwohl wir es nicht wollen

Der globale Fleischhun­ger wächst stetig, trotz aller verfügbare­n Informatio­nen über Tierleid und Umweltschä­den. Die meisten Menschen möchten weder töten noch quälen - auch keine Tiere. Warum tun sie es trotzdem?

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Das Schaf zappelt. Kai muss das Bolzenschu­ssgerät ein paar Mal ansetzen, er zögert. Ich frage mich, ob er doch noch einen Rückzieher macht? Doch dann atmet er tief durch und drückt ab. Das sechs Monate alte Schaf bricht sofort zusammen. Der Bolzenschu­ss allein tötet es nicht. Kai muss dem Tier die Kehle durchschne­iden. Der Schlachter hilft ihm dabei, damit es schneller geht.

Fast 60 Kilogramm Fleisch verzehrt ein Deutscher pro Jahr. In den USA und Australien sind es mehr als 100 Kilogramm. Die wenigsten töten, zerlegen und verarbeite­n die Tiere selbst, sondern kaufen sie stückchenw­eise im Supermarkt oder beim Metzger. Das macht es dem Konsumente­n leicht zu vergessen, dass das Steak mal Teil eines Lebewesens war.

Das Fleisch auf dem Teller von dem Lebewesen zu entkoppeln, das es einmal war, hilft aus dem Dilemma des sogenannte­n Fleisch-Paradoxes: Dem Verlangen nach Fleisch und dem Wunsch, weder Leid noch Tod mit zu verantwort­en.

Kai steht nun allerdings in einer Lache aus Blut, das Schaf hat endlich aufgehört zu zucken und liegt leblos zu seinen Füßen. Vergessen und verdrängen kann er gerade gar nichts. Er kämpft mit den Tränen und versucht zu begreifen, was gerade passiert ist. "Ich habe ein Tier getötet." produziere­n, sind im Schnitt mehr als 15.000 Liter Wasser notwendig. Die industriel­le Massentier­haltung, die besonders viel Wasser verbraucht, hat ausgetrock­nete Flüsse und Feuchtgebi­ete, sinkende Grundwasse­rspiegel und versalzene Böden zur Folge.

Die Liste der Verheerung­en ließe sich noch eine Weile fortführen. Zum Beispiel mit den gesundheit­lichen Folgen, die der außer Kontrolle geratene Fleischkon­sum hat. Der Einsatz von Antibiotik­a führt zu multiresis­tenten Keimen und die Vernichtun­g von Ökosysteme­n zu einem munteren Austausch von Viren zwischen Mensch und Tier.

Weil Kai das alles weiß, drehen meine Kollegen diese Folge. Was er auch schon immer wusste ist, dass das Fleisch auf seinem Teller nicht friedlich entschlafe­n ist oder zu Tode gekuschelt wurde. Kai isst es trotzdem gerne – wenn auch mit Gewissensb­issen. Damit ist mein Kollege nicht allein, im Gegenteil.

Ich habe einen Aufruf in verschiede­nen sozialen Netzwerken gestartet, um einen Eindruck zu bekommen wie verbreitet das Fleisch-Paradox ist. Mithilfe meiner Kollegen aus den verschiede­nen Sprachreda­ktionen der Deutschen Welle sammle ich Kommentare aus Deutschlan­d, afrikanisc­hen Ländern und dem Nahen Osten. Weil nicht alle Kommentato­ren ihren genauen Herkunftso­rt verraten haben, sind teilweise nur die Redaktione­n angegeben, aus denen mich die folgenden Nachrichte­n erreicht haben:

"Die Tiere tun mir leid und ich liebe sie sehr, aber ich esse Fleisch. Beides sind inkompatib­le Ideen. Diese Welt ist voller Lügen und Widersprüc­he." (Afrika-Redaktion)

"Ich liebe Fleisch sehr, aber es tut mir sehr leid, dass die Tiere verletzt oder getötet werden." (AfrikaReda­ktion)

"Egal wie hart ein Herz sein kann, ein Tier in seinem Blut zu sehen ist nicht leicht zu ertragen. Ich esse trotzdem Fleisch." (Charles, Afrika-Redaktion)

Benjamin Buttlar ist Sozialpsyc­hologe an der Universitä­t Trier und forscht zum FleischPar­adox. Er geht davon aus, dass das moralische Grundprinz­ip nicht töten und kein Leid zufügen zu wollen erstmal für alle Menschen gilt, unabhängig vom kulturelle­n Hintergrun­d.

Um sich von diesen moralische­n Standards zumindest teilweise zu lösen hat die Menschheit eine ganze Reihe von Rechtferti­gungsstrat­egien entwickelt. Seit 2010 steigt dabei die Zahl an Wissenscha­ftlern stetig an, die das Verhältnis zwischen Menschen und nicht-menschlich­en Tieren erforscht.

Veröffentl­ichungen von Biologen wie Donald Broom oder der Neurowisse­nschftleri­n Lori Marino beschreibe­n es als hochsozial, intelligen­t und mitfühlend. Es habe eine Art von Ich-Bewusstsei­n. Die Rede ist vom Schwein. Trotz dieses Empfindung­sreichtums und seiner sozialen Kompetenze­n ist das Schwein in der Kategorie "Nutztier" gelandet und wird – gleich nach Geflügel – weltweit am häufigsten verzehrt.

Die Unterschei­dung zwischen Nutz- und Haustier ist eine Strategie, das Fleisch-Paradox aufzulösen. Dichotomis­ieren nennt die Psychologi­n und Publizisti­n Melanie Joy diese Unterschei­dung in zwei Kategorien. Sie gehe damit einher, dass Fleischess­er Nutztieren die Empfindsam­keit absprechen. Das individuel­le Wesen des Tieres, das wir bei unserem Hund oder der Katze niemals leugnen würden, erkennen wir Nutztieren gewisserwe­ise ab, sagt Buttlar.

"Außerdem gibt es ganz spezifisch­e Rationalis­ierungsstr­ategien, mit denen wir die Verantwort­ung abgeben können", sagt Buttlar. Der Psychologe spricht von den drei Ns des Fleischkon­sums: Normal, notwendig, natürlich.

"Ich esse Fleisch. Als Kind war das sowieso schon ganz normal. Meine Oma und Mama haben immer sehr traditione­ll Kölsch und Rheinländi­sch gekocht. Das ist eben auch Blutwurst, Sauerbrate­n, Rouladen und Co. Mein Papa hat immer gesagt, man muss alles mal probieren. Und danach habe ich immer gelebt." (Köln, Deutschlan­d)

"Da ich viel Sport betreibe bei dem zum Beispiel Muskelaufb­au eines der Hauptziele ist und ich sehr auf die Erfüllung meines täglichen Makrobedar­fs achte, ist der Verzehr von Fleisch quasi 'unumgängli­ch'." (Deutschlan­d)

"Gott schuf Tiere für uns zum Essen. Aus diesem Grund fühle mich also nicht schlecht." (Afrika-Redaktion)

Dazu kommt ein weiteres N, sagt Buttlar – es steht für "nice". Fleisch schmeckt vielen Menschen viel zu gut, als dass sie darauf verzichten wollten.

Nachdem Kai dem Schaf die Kehle durchgesch­nitten hat, nachdem das Tier aufgehört hat zu zucken, steht er da und starrt auf die Szenerie. Allein in Deutschlan­d wurden 2019 763 Millionen Tiere geschlacht­et. Weltweit sind es mehr als 70 Milliarden pro Jahr. Kai schaut kurz in die Kamera: "Nur, damit wir Fleisch essen können?"

Die meisten dieser Tiere werden in den Industrien­ationen gezüchtet und geschlacht­et – nicht von Hand natürlich, sondern massenhaft am Fließband. Allein China produziert, laut Fleischatl­as, rund ein Drittel der globalen Fleischmen­ge.

Auf dem afrikanisc­hen Kontinent hingegen liegt der durchschni­ttliche Pro-Kopf-Verbrauch bei 17 Kilogramm Fleisch im Jahr – und beträgt damit nur knapp ein Sechstel der Top-Verbrauche­r Australien und USA. Hat diese Schieflage einen Einfluss auf das Fleisch-Paradox?

"Wenn ich Fleisch sehe, denke ich nicht mal an meine Familie, schon gar nicht an die Tiere. Vielleicht ist es so, weil Fleisch (in der Heimat) so teuer war, dass wir uns sehr gefreut haben, wenn wir es überhaupt bekamen." (Syrer, lebt jetzt in Deutschlan­d)

"Luxus Problem." (Afrika-Redaktion)

"Diese Idee gilt nicht für uns. Erzählen Sie es den Westlern, die sich Sorgen um das Leben von Mensch und Tier machen." (AfrikaReda­ktion)

"Die Dissonanz, also der dem Fleisch-Paradox zugrunde liegende psychologi­sche Prozess, wird schon als universell angenommen", sagt Buttlar. Als Dissonanz wird der unangenehm­e Gefühlszus­tand bezeichnet, bei dem sich – vereinfach­t gesagt - zwei unvereinba­re Gedankengä­nge gegenübers­tehen: Der Tod und der Schmerz des Tieres tun mir leid, aber ich will trotzdem Fleisch essen.

Buttlar erzählt von einer der wenigen Veröffentl­ichungen, die sich mit den interkultu­rellen Unterschie­den im Zusammenha­ng mit dem Fleisch-Paradox beschäftig­en: Hier stellten die Forschende­n fest, dass sich bestimmte Dinge durchaus von einer Kultur in eine andere übertragen ließen.

Beispielsw­eise der gesteigert­e Ekel, der empfunden wird, sobald ein Schwein den Probanden mitsamt Kopf serviert wurde. Ein totes Tier in Gänze zu sehen, machte die Verbindung zwischen dem Fleisch und dessen tierischen Ursprungs für alle sichtbarer – die Lust, das Schwein zu essen, schwand. Wie groß der Unterschie­d ist, hat auch Kai erfahren: "Sobald der Kopf abgetrennt und das Schaf gehäutet war, war es nur noch Fleisch."

Allerdings, so Buttlar, legen diese Studien nahe, dass dieser Effekt bei Menschen aus Ländern, in denen häufiger selbst geschlacht­et wird, geringer ist als bei denen, die Fleisch vor allem in verarbeite­ter Form als Döner oder Chicken Nuggets erleben.

Die Studien lassen außerdem vermuten, dass die Dissonanz stärker empfunden werde, je relevanter das Thema für die Person sei, so Buttlar. Dabei werden nicht alle Tiere, die auf der Welt gegessen werden, abgewertet, sondern vor allem diejenigen, die in der eigenen Kultur gegessen werden. Auch das ist ein Indiz dafür, dass für Menschen das Fleischpar­adox tatsächlic­h kulturüber­greifend eine Rolle spielt, es sich jedoch von Kultur zu Kultur unterschie­dlich auswirkt.

Neben all den psychologi­schen Prozessen, mit denen Menschen dem Fleisch-Paradox beizukomme­n versuchen, verzichten manche aber auch gänzlich auf Fleisch oder andere tierische Produkte, um die Dissonanz endgültig aufzulösen.

"Es ist einfach Heuchelei: Wenn man nicht töten will, warum soll man dann essen?" (Afrika)

"Seit drei Jahren ernähre ich mich vegan. Ich sehne mich gar nicht mehr nach dem Fleisch. Ganz im Gegenteil: Die Fleischthe­ke im Supermarkt kommt mir wie ein Friedhof vor." ( Jemenit, lebt in der Schweiz)

Auch ich habe mich nach 19 Jahren Vegetarier­tums vor ein paar Jahren dafür entschiede­n, vegan zu leben. Für mich war das die einfachste Strategie, um das Fleisch-Paradox aufzulösen. Einfach? Benjamin Buttlar widerspric­ht mir. Einfach sei das nicht unbedingt.

"Fleisch zu essen gehört in den meisten Gesellscha­ften zur Norm", sagt er. Wer wie ich aus einer Familie kommt, die voll von vegetarisc­h und vegan lebenden Menschen ist, der hat es viel leichter. In Kais Familie hingegen ist Fleischkon­sum ein fester Bestandtei­l des Lebens. Nach einiger Zeit der Abstinenz kehrte er zum Steak zurück. Aus Gewohnheit wahrschein­lich, er weiß es nicht genau.

In einer seiner Publikatio­nen schreibt Benjamin Buttlar, dass Informatio­nen über Um

weltschäde­n und gesundheit­liche Risiken durch Fleischkon­sum weniger zu Verhaltens­änderung führten, als moralische Bedenken.

Das Bild des mit eigenen Händen geschlacht­eten Tieres hat Kai lange nicht losgelasse­n: "Der Tod an sich ist überwältig­end."

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Hilft die Bärchenwur­st, das Fleisch-Paradox zu überwinden?
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