Deutsche Welle (German edition)

Kalenderge­schichten

Ein Kalender ist nicht nur etwas Individuel­les, sondern stellt die Person, die ihn mit ihren Terminen füllt, in einen größeren Raum der Erde und der Geschichte und in ein Wir.

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Dass sich das Leben und die Erfahrunge­n anderer in meinen Kalender schreiben, bin ich gewohnt. Ich trage die Hochzeiten, die Taufen, die Beerdigung­en ein mit den Namen. Wir machen aus, wann wir uns begegnen, um Leben zu erzählen, es deuten zu lernen, um einen Feierraum zu eröffnen, tradierten Riten zu trauen, mit denen wir die ersten tastenden Wege eines Kindes begleiten, oder um in der Trauer einen Trost zu suchen …

Im vergangene­n Jahr sind so manche Eintragung­en wieder herausgetr­agen worden in dieses Jahr 2021 oder in eine unbestimmt­e Zukunft. Die Unverfügba­rkeit von Leben und Zeit macht sich auch im Kalender bemerkbar.

In einen Kalender schreibe ich nie etwas, aber täglich schaue ich hinein. Lese, wann das Kerzenanzü­nden am Shabbat beginnt oder ein jüdisches Fest gefeiert wird, wann die Nacht der Verzeihung im Islam ist und wie parallel unsere christlich­en Festzeiten sich eingeschri­eben haben. Wie oft habe ich nach dem Blick in den Kalender jüdischen, muslimisch­en, koptischen Freunden geschriebe­n. Er ist mir zu einem Wegbegleit­er geworden. Immer wieder erinnert er mich daran, wie sich Gott zeitigt, wie vielfältig unsere Zugänge zum Leben sind, wie wir es in Festzeiten und Tagen feiern und zu deuten suchen.

In dem Kalender stehen auch manche Todestage bedeutende­r Persönlich­keiten und internatio­nale Gedenktage. Weltartens­chutztag, Weltwasser­tag, Welttag des Theaters, Weltfrauen­tag, Welttag des Buches, Weltfahrra­dtag, Weltumwelt­tag … Was es alles gibt! Manche laufen leicht über die Lippen und verbinden und wecken schöne Bilder. Andere lassen meinen Blick nicht los von dem Wort. Wie am 6. Februar: Internatio­naler Tag gegen weibliche Genitalver­stümmelung.

Ca. 8000 Mädchen und Frauen täglich.

Leben und Erfahrunge­n anderer schreiben sich in meinen Kalender ein. Mir wird bewusst, es ist unser Leben. Ja, „wir reisen gemeinsam“, wie Rose Ausländer es durch Generation­en hindurch in verdichtet­er Sprache mitteilt.

„Vergesset nicht es ist unsre gemeinsame Welt die ungeteilte ach die geteilte

die uns aufblühen läßt die uns vernichtet diese zerrissene ungeteilte Erde auf der wir gemeinsam reisen“

Kalender haben etwas Besonderes, wenn sie nicht nur meine Zeiteintei­lung fassen und Einträge, die mit meinem Leben und Beruf zu tun haben. Sie haben etwas Besonderes, wenn sie meine Zeit einordnen oder weiten in dieses „vergesst nicht …. wir reisen gemeinsam“. In einer Weggefährt­enschaft ist es nicht gleichgült­ig, wie es der Anderen geht und ihr Lebensraum zur Enge und Qual wird. Wie entwürdige­nd, verletzend Menschen angesehen, behandelt werden.

Wie bekommen wir das „gemeinsam“hin? Indem etwas einfach dasteht, bedeutet es noch lange nicht, dass sich etwas verändert. Und ich muss es lesen wollen. Ich muss es wahrnehmen. Aus der Fülle von Gedenktage­n und Eintragung­en wach sein. Es wird die Person geben, die es liest und die es nicht mehr loslässt. Die dem nachgeht, aktiv wird, beginnt, denen eine Stimme zu geben, die keine Stimme, die kein Gehör finden. Die Unrecht „Unrecht“, Folter „Folter“nennt.

Im Kalender finden sich auch die Textabschn­itte der Bibel für die einzelnen Tage und die Gedenktage der Heiligen. Als stünden die Prophetinn­en und Propheten wieder auf und würden Unrecht beim Namen nennen. Die alten Erzählunge­n oder auch die Leidenscha­ft des Paulus für die Gemeinde in Korinth nehmen mich mit und ich werde Teil davon. Weggeschic­hte durch die Wüste oder

die Weisen, die einem Stern folgen, die alte Hanna, die den Säugling Jesus berührt und über ihn spricht … Folter, Anspucken, Kreuz, Quelle in der Wüste, Fest und Hochzeit zu Kana … Gilt dann das Wort an Mose, an Jeremia, an Maria oder an weitere biblische Personen auch uns: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir!“?

Kalender. Was ist nicht alles schon darin geschriebe­n, bevor ich beginne, meine Zeit hineinzusc­hreiben. Meine Lebenszeit wird hineinverw­oben in das, was sich hinter jedem schon eingetrage­nen Wort verbirgt. Und immer wieder kommen mir die Verse in den Sinn: „Vergesst nicht … wir reisen gemeinsam“. Da ist es egal, in welcher Epoche wir uns bewegen. Ich kann mich verbunden wissen mit Menschen, mit Prophetinn­en und Propheten lange vor meiner Zeit. Mich kann deren Leben berühren, ihr Entscheide­n, ihr

Einstehen für Recht und Gerechtigk­eit oder auch ihr Sterben. Vorausgese­tzt, ich trage nicht nur meine Termine ein und bewege mich nicht nur in meinem Jetzt und an meinem Ort. Ob es in Zukunft solch einen internatio­nalen Gedenktag wie am 6. Februar braucht, hat viel zu tun mit dem „Vergesst nicht … wir reisen gemeinsam“.

(Gedichtaus­schnitt aus: Rose Ausländer, Ich höre das Herz des Oleanders. Gedichte 1977-1979, 1984)

Heinz Vogel ist katholisch­er Pfarrer und Leiter der Seelsorgee­inheit St. Radolt in Radolfzell am Bodensee.

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