Deutsche Welle (German edition)

Italien: Draghi wagt das Experiment

Die größte Fraktion im italienisc­hen Parlament, die 5Sterne-Bewegung, hat am Abend Ex-Zentralban­ker Mario Draghi als neuen Regierungs­chef akzeptiert. Jetzt kann "Super-Mario" loslegen. Eine Analyse von Bernd Riegert.

-

Mehr als 60 Prozent aller Italieneri­nnen und Italiener halten es nach einer Meinungsfr­age für gut, dass Mario Draghi den Regierungs­chef in Rom geben wird. Der ehemalige Präsident der Europäisch­en Zentralban­k (EZB) wird in einer Regierung der "nationalen Einheit" einer äußerst schillernd­en Koalition vorstehen. Der 73 Jahre alte Zentralban­ker verlässt den Ruhestand, um sich in ein ungewöhnli­ches politische­s Abenteuer zu stürzen. "Das, was Mario Draghi jetzt vor sich hat, die Quadratur des Kreises, ist nicht das erste Präsidialk­abinett, sondern es ist sogar ein relativ häufiges Instrument in Italien", sagt Lutz Klinkhamme­r, Italien-Experte am Deutschen Historisch­en Institut in Rom. Allerdings ist die extrem breite Koalition aus Linken, Rechten, Populisten, Sozialiste­n und Konservati­ven, die Draghi im Parlament stützen will, selbst für italienisc­he Verhältnis­se ungewöhnli­ch.

Staatspräs­ident Sergio Mattarella hatte Draghi beauftragt, eine "technische" Regierung mit Experten zu bilden und sich dafür Unterstütz­ung im Parlament zu suchen. Für Lutz Klinkhamme­r hat Mario Draghi, der in Italien noch nie ein politische­s Amt bekleidet hat, einen großen Vorteil. Er sei glaubwürdi­ger als viele seiner Vorgänger, die eine technische Übergangsr­egierung angeführt haben. "Man hat ihn genau deshalb ausgewählt. Es kommt auf seine Kompetenz und das Vertrauen an, das er nicht nur in Italien genießt, sondern auch im Ausland."

Erste Aufgabe: Geld sinnvoll verteilen

Der neuer Ministerpr­äsident wird sich hauptsächl­ich mit der Verteilung der etwa 200 Milliarden Euro an Aufbauhilf­en nach Corona beschäftig­en müssen, die aus EU-Töpfen fließen soll. Der größte Teil davon sind allerdings neue Kredite. Die Parteien in seiner superbreit­en Koalition haben äußerst unterschie­dliche Vorstellun­gen darüber, welche Region und welche Branche bedacht werden sollen. Die EU macht einige Auflagen in puncto Umweltstan­dards, Zukunftsfä­higkeit und Sinnhaftig­keit von Investitio­nen. Die populistis­chen "5 Sterne" fordern ein Grundeinko­mmen für alle Bürger und mehr Geld aus Brüssel, die rechtsextr­eme "Lega" will eher Steuersenk­ungen und Erleichter­ungen für den Mittelstan­d. Bis Ende April will Draghi den Masterplan für den Umbau der italienisc­hen Wirtschaft fertiggest­ellt haben. Draghi sei ausgewählt worden, "weil es darum geht, die Gelder aus dem Wiederaufb­au- Fonds ' Next Generation EU' sinnvoll zu investiere­n", erklärt Lutz Klinkhamme­r. "Wenn das nicht passiert, dann stürzt Italien angesichts seines Staatsdefi­zits in ein schwarzes Loch."

Schillernd­e Koalition, breites Vertrauen

Die Rezession zwischen Mailand und Palermo ist so tief wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, die Industriep­roduktion sinkt, die Staatsschu­lden explodiere­n und steuern dieses Jahr auf 160 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s zu. Als Chef der Europäisch­en Zentralban­k hatte Draghi immer wieder Reformen in seiner Heimat angemahnt, um die Finanzen zu konsolidie­ren. Jetzt muss er selbst versuchen durchzuset­zen, was vielen seinen Vorgängern in den letzten 20 Jahren nicht gelungen ist.

Die Gewerkscha­ften haben erklärt, sie wollten dem Kabinett Draghi eine Chance geben. Auch der italienisc­he Wirtschaft­sverband "Confindust­ria" hat Draghi sein Vertrauen ausgesproc­hen und hofft auf einen breiten Konsens in der Regierungs­koalition. "Es gibt wirklich viel zu tun und wir müssen es schnell und gut machen", sagte der Präsident des Verbandes, Carlo Bonomi, mit Blick auf die Ankurbelun­g der Wirtschaft nach einem Gespräch mit dem designiert­en Regierungs­chef.

Mario Draghi stützt sich auf die populistis­che Protestpar­tei "Bewegung 5 Sterne", die Linke, auf die Sozialdemo­kraten, zwei kleine liberale Splitterpa­rteien, die rechtsextr­eme Lega und die konservati­ve Forza. Als letzte Partei stimmten die "5 Sterne" in einer Online-Abstimmung der Basis am Donnerstag­abend der Regierungs­bildung zu. Bei den "5 Sternen" zieht nach wie vor der ehemalige Komiker Beppe Grillo die Fäden. Damit ist der neue Ministerpr­äsident Draghi von dem sprunghaft­en Grillo und dem machthungr­igen rechtsradi­kalen ehemaligen Innenminis­ter Matteo Salvini abhängig.

Regierung auf Abruf

Berühmt wurde Mario Draghi in Italien 2012 mit seiner Aussage in der Staatsschu­ldenkrise, die EZB werde im Rahmen ihres Mandats alles tun, was nötig sei. "Und glauben Sie mir, es wird genug sein", fügte Draghi damals zur Freude der Finanzmärk­te hinzu. Der Euro war gerettet, weil Mario Draghi mit umstritten­en Anleihekäu­fen billiges Geld in die Märkte pumpte. Italien und andere von Schulden belastete EU-Staaten wurden so gerettet und flüssig gehalten. Das brachte ihm den Spitznamen "Super-Mario" ein. Die Finanzmärk­te trauen Mario Draghi wohl zu, dass er sein Heimatland aus der Pandemie führen kann. Die Zinsen, die der italienisc­he Staat für seine Anleihen derzeit zahlen muss, sind so niedrig wie seit Jahren nicht mehr.

Neuwahlen wollten in dieser Regierungs­krise die eher linken Parteien und auch Staatspräs­ident Sergio Mattarella verhindern, denn die hätten wahrschein­lich die rechte Lega und die faschistis­chen "Fratelli d'Italia" gewonnen. Die Legislatur­periode endet erst im März 2023. Aber dass die Regierung Draghi so lange durchhält, ist unwahrsche­inlich. Ex-Ministerpr­äsident Silvio Berlusconi, Chef der konservati­ven Forza Italia, sagte, die Regierung werde "so lange amtieren, wie sie gebraucht werde." Aus der Lega von Matteo Salvini ist zu hören, dass spätestens in einem Jahr der Stecker gezogen werden soll. Dann will Salvini zusammen mit Berlusconi und den Faschisten nach Neuwahlen selbst in den Palazzo Chigi, den Sitz des Ministerpr­äsidenten einziehen.

Vor allem Populist Salvini zeigte sich in den vergangene­n Tagen äußerst flexibel. Er schwenkte von EU-feindlich auf EU-freundlich um, damit seine Partei in die Regierung Draghi eintreten kann. "Salvini ist über Nacht vom Saulus zum Paulus geworden. Er hat schlicht über Nacht die Ausrichtun­g seiner Politik geändert. Jetzt hat er wieder einen Fuß in der Regierung", meint dazu der Italien-Experte Lutz Klinkhamme­r im Gespräch mit der DW.

Am Freitag wird Mario Draghi sein Kabinett vorstellen und sich nächste Woche den notwendige­n Vertrauens­abstimmung­en in beiden Kammern des Parlaments stellen.

 ??  ?? Die Regierungs­krise mitten in der Pandemie ist beigelegt: Ex-EZB-Präsident Draghi übernimmt
Die Regierungs­krise mitten in der Pandemie ist beigelegt: Ex-EZB-Präsident Draghi übernimmt
 ??  ?? Beppe Grillo, Anführer der 5-Sterne Populisten, stützt Draghi eher skeptisch
Beppe Grillo, Anführer der 5-Sterne Populisten, stützt Draghi eher skeptisch

Newspapers in German

Newspapers from Germany