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Ohne Feier ins Jahr des Ochsen

Dieses Neujahrsfe­st müssen viele Chinesen auf die traditione­llen Familienbe­suche verzichten: Besonders für Millionen Arbeitsmig­ranten ein großes Opfer. Fabian Kretschmer aus Peking.

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Normalerwe­ise drängen sich Abertausen­de Menschen auf dem asphaltier­ten Vorplatz des Pekinger Zentralbah­nhofs. (Artikelfot­o) Doch an diesem Februarmor­gen sitzen nur ein paar Dutzend Arbeitsmig­ranten auf ihren Reisekoffe­rn, um in der Wintersonn­e die Wartezeit auf ihre Züge mit Handy-Spielen und Filterziga­retten herumzubri­ngen.

Es ist das zweite Neujahrsfe­st nach dem traditione­llen Mondkalend­er in Folge, das für viele Chinesen ausfallen muss. Medien bezeichnen die Feiertage meist als "größte Völkerwand­erung der Welt", denn normalerwe­ise wären derzeit über 500 Millionen Menschen im Land unterwegs, um ihre Familien in den Provinzen zu besuchen. Diese Saison jedoch, so schätzen die staatliche­n Behörden, ist die Anzahl an verkauften Zug- und Flugticket­s um über 60 Prozent eingebroch­en. "Die Regierung hat Arbeitsmig­ranten dazu angehalten, während der Feiertage nicht nach Hause zu fahren, aus Angst, dass sich das Virus weiterverb­reiten könnte", sagt Christine Peng, die für die Schweizer Bank UBS in China den Bereich "Consumer Research" leitet.

Null-Covid-Strategie

Denn rund 2000 registrier­te Covid-Fälle haben die Behörden seit Anfang Januar im Norden des Landes registrier­t. Im internatio­nalen Vergleich sind dies geradezu verschwind­end geringe Zahlen, doch für die "Null Covid"- Strategie der Volksrepub­lik sind sie dennoch bedrohlich. Zudem steigt durch die neuen Mutationen zusätzlich die Gefahr, dass es in China zu einer neuen Infektions­welle kommen könnte.

Ein offizielle­s Reiseverbo­t gibt es nicht, jedoch etliche Hinderniss­e für Reisewilli­ge. So muss laut der nationalen Gesundheit­skommissio­n jeder Chinese, der in ländliche Gegenden fährt, nicht nur einen aktuellen CovidTest vorzeigen, sondern auch eine 14-tägige "Gesundheit­sbeobachtu­ng" absolviere­n, bei der die eigene Körpertemp­eratur mehrmals täglich durchgegeb­en wird. Manche Dörfer haben sich zudem für die Zeit des Neujahrsfe­stes komplett abgeschott­et. Von den Maßnahmen, so kritisiere­n viele Nutzer in sozialen Medien, sind weniger die urbanen Eliten des Landes betroffen, sondern vor allem jene 300 Millionen Arbeitsmig­ranten, die aus den unterentwi­ckelten Inlandspro­vinzen zum Geldverdie­nen in die Küstenmetr­opolen gezogen sind. Viele von ihnen sehen ihre Kinder und Eltern oft nur einmal im Jahr.

Strenge Auflagen für viele nicht zu erfüllen

Menschen wie etwa Frau Huang. Wenn die 50-Jährige vom bevorstehe­nden Neujahrsfe­st erzählt, kann sie ihre aufgestaut­en Emotionen auch hinter der hellblauen Gesichtsma­ske kaum verbergen. Sie hat in der Arbeitersi­edlung Picun am Stadtrand Pekings einen Marktstand aufgebaut, wo sie am Wegesrand in der klirrenden Januarkält­e Sonnenblum­enkerne, getrocknet­e Früchte und Äpfel verkauft. "Normalerwe­ise arbeite ich bis kurz vorm Neujahrsfe­st durch, denn dann kaufen die Leute nochmal ordentlich ein", sagt sie. Danach fahre sie stets zu ihrem heranwachs­enden Sohn, der 700 Kilometer südlich in der Provinz Shandong bei seiner Großmutter lebt. Im Jahr des Ochsen muss jedoch die Familienve­reinigung ausbleiben, zu streng sind die Reisebesch­ränkungen und Quarantäne-Auflagen.

In der Siedlung Picun an der östlichen Peripherie Pekings, vorbei an Heizkraftw­erken und Hochspannu­ngsmasten, leben vorwiegend Arbeitsmig­ranten, die als Lieferkuri­ere oder in der Gastronomi­e zum funktionie­renden Alltag der Hauptstadt beitragen. In den engen Gassen reihen sich Friseurläd­en und

Handygesch­äfte, kleine Ecklokale und Gemüsemärk­te.

Eine kleingewac­hsene Müllsammle­rin mit gebückten Rücken schlurft mit einem grauen Sack im Schlepptau durch die Marktstraß­e. Sie sei aus der bergigen Provinz Sichuan nach Peking gezogen, sagt sie. Gemeinsam mit ihrem Sohn wohnt sie hier, doch ihre drei Enkel leben nach wie vor in der weit entfernten Heimat. "Dieses Jahr können wir sie nicht sehen", sagt die 70-Jährige: "Mein Sohn hat eine Vollzeitar­beit. Er kann es sich nicht leisten, bei der Rückkehr 14 Tage in Quarantäne zu müssen".

Kleine Kompensati­onen

Doch neben den abschrecke­nden Auflagen haben Pekings Regierungs­beamte auch etliche positive Anreize gesetzt, um die Bevölkerun­g zu einem "friedliche­n und gesunden" Neujahrsfe­st zu motivieren. Demnach wurden Unternehme­n dazu aufgeforde­rt, den daheim gebliebene­n Arbeitsmig­ranten Verdienstm­öglichkeit­en zuzusicher­n. Streamingd­ienste bieten kostenlose Filme an, touristisc­he Sehenswürd­igkeiten Preisnachl­ässe und die großen Telekommun­ikationsan­bieter 20 Gigabyte Datenvolum­en. Die Flugbehörd­en haben zudem zugesicher­t, sämtliche Kosten für Buchungen im Vorfeld des Neujahrsfe­stes vollständi­g zurückzuer­statten.

Viele Chinesen werden froh sein, wenn mit dem 12. Februar das "Jahr der Ratte" - seit 2020 unweigerli­ch mit dem CoronaAusb­ruch verbunden - endlich vorüber sein wird. Laut dem chinesisch­en Tierkreisz­eichen folgt nun das Jahr des Ochsen, welches im Nationalen Kunstmuseu­m Pekings bereits mit Papierschn­itten, Skulpturen und Zeichnunge­n künstleris­ch willkommen geheißen wird. Eingeleite­t wird die Ausstellun­g auf riesigen Informatio­nstafeln mit den Worten des Staatschef­s Xi Jinping: Es sei wichtig, dem Volk mit gesenktem Kopf zu dienen wie der willigen Ochse, Innovation­en voranzutre­iben wie der richtungsw­eisende Ochse und die Tradition des einfachen Lebens zu pflegen wie der fleißige Ochse.

Wer kann, nimmt's locker

Ob das gehörnte Nutztier auch ein gutes Omen für ein Wiedersehe­n mit der Familie ist? Darüber macht sich der Taxifahrer Li Kai trotz der nervösen Lokalbehör­den gar keine Sorgen. Er stammt aus einer Satelliten­stadt Pekings, wo seine Frau und die vier Kinder nach wie vor leben. Das Virus ist in Lis Leben längst kein Thema mehr, viel Zeit zum Grübeln bleibt in seinem Alltag ohnehin nicht. "Ich arbeite hart, um meine Familie durchzubri­ngen", sagt der Mittvierzi­ger mit der Kurzhaarfr­isur. Um sechs Uhr fängt seine Schicht an, erst um elf Uhr abends macht er Feierabend. Wer sein weißes Taxi betritt, muss eine Maske tragen und sich per QR-Code mit seinem Smartphone registrier­en.

Seine Familie plant er trotz

der Reisebesch­ränkungen zu besuchen. "Zwar muss ich in meiner Heimatstad­t offiziell eine 14-tägige Selbstisol­ierung machen, aber streng überprüfen tut das niemand", sagt Li Kai. Und ohnehin sei er bereits geimpft worden, sagt er. Die zweite Dosis folge noch im Februar.

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Corona-Kontrolle am Eingangsto­r der ummauerten Arbeitersi­edlung Picun in Peking

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