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Schuld ohne Sühne: Sie wurden getötet, weil sie Juden versteckte­n

Der deutsche Polizist Eilert Dieken befahl im besetzten Polen die Ermordung von Juden - und derer, die ihnen Unterschlu­pf gewährten, darunter die achtköpfig­e Familie Ulma. Für seine Tochter blieb er ein guter Mensch.

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Es ist der 24. März 1944. In Markowa, einem kleinen Dorf im Karpatenvo­rland, dämmert es. Ein Gendarm klopft an die Tür von Teofil Kielar. "Wir haben Juden erschossen. Bei den Ulmas", sagt er. Der Dorfvorste­her soll Männer zusammenru­fen, um Gräber auszuheben. Kielar eilt zum Haus von Józef Ulma. Unterwegs hört er noch einen Schuss.

Auf dem Hof sieht er ein Kind auf dem Boden liegen. Ein Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt. Sie bewegt noch ihre rechte Hand. Direkt neben ihr liegen die leblosen Körper der Eltern, der hochschwan­geren Wiktoria und Józef, sowie der fünf Geschwiste­r, darunter die Schülerin Stasia. Und ein Stück weiter Saul Goldman, einer der Juden, die die Ulmas versteckt hatten.

Neben den Toten steht der deutsche Oberleutna­nt der Polizei Eilert Dieken. "Ich ging zu ihm und fragte: 'Warum habt ihr die Kinder erschossen?' Worauf er mir antwortete: 'Damit die Gemeinde kein Problem mit ihnen hat'", berichtet Dorfvorste­her Kielar im März 1958. tadt Esens, in der ein Inspektor dieses Namens erwähnt wird. In einem Brief an die dortige Polizeista­tion schreibt Szpytma, dass er ein Museum in Markowa gegründet hat und um Informatio­nen über den ehemaligen Gendarmen bittet.

Nach einiger Zeit kommt die Antwort: Nach dem Krieg arbeitete Eilert Dieken auf dem Polizeipos­ten in Esens. Das zeigen auch beigefügte Fotos. Anderthalb Jahre später kommt der Brief von der Tochter. Szpytma vereinbart ein Treffen.

Im Zweiten Weltkrieg werden in die vom Dritten Reich besetzten Gebiete nicht nur Wehrmacht und SS geschickt, sondern auch Polizei. Eilert Dieken dient ab 1941 im Städtchen Landshut (Łańcut) im Karpatenvo­rland. Er leitet den dortigen Gendarmeri­eposten.

Dazu gehörte, sich um die Einhaltung der Gesetze zu kümmern, darunter die Verordnung über die Aufenthalt­sbeschränk­ung i m Generalgou­vernement. Ab Oktober 1941 droht dort nicht nur Juden, die ihre Ghettos verlassen, der Tod, sondern auch Menschen, die sie verstecken. Wie den Ulmas, die acht Juden aufgenomme­n haben.

"Die Ulmas waren eine ruhige Familie", sagt Eugeniusz Szylar. Sein Vater Franciszek war Zeuge ihrer Ermordung. "Vielleicht waren sie zu mutig?", mutmaßt er. Auch Szylars Familie hat damals Juden versteckt - aber von denen durfte keiner tagsüber das Haus verlassen. Bei den Ulmas dagegen halfen die Juden bei der Feldarbeit.

Für Eugeniusz Szylar bleibt der Tag der Ermordung der Ulmas einer der schlimmste­n des ganzen Krieges: "Ich war 12 Jahre alt und habe in der Schule erfahren, was passiert ist. Weinend ging ich nach Hause und stellte mir vor, wie die Deutschen nachts zu uns kommen und uns im Schlaf erschießen".

Nur zwei Täter werden für den Tod der achtköpfig­en Familie und der acht Juden büßen: Der Gendarm der polnischen Polizei, der die Familie an die Deutschen verriet, wird von polnischen Untergrund­kämpfern erschossen. Ein ehemaliger deutscher Polizist, Josef Kokot, wird 1958 von einem polnischen Gericht zu lebenslang­er Haft verurteilt. In seinen Aussagen versichert er, auf Diekens Befehl gemordet zu haben.

Zu diesem Zeitpunkt lebt Eilert Dieken bereits lange in Esens. Manche Bewohner der Kleinstadt erinnern sich an den Oberleutna­nt der Polizei. "Sehr nett und hilfsberei­t", sagt eine ältere Dame am Telefon.

"Ein ranghohes Mitglied der Polizeibeh­örde. Wir respektier­ten ihn", erinnert sich der 92jährige Esenser Theodor Sjuts. Er war sehr beliebt, auch bei den jungen Leuten. Sjuts ist schockiert, als er erfährt, für welche Verbrechen Dieken verantwort­lich ist.

Schockiert ist auch Klaus Wilbers, Ex-Polizist und ehemaliger Bürgermeis­ter von Esens. Als er 1973 den Dienst aufnimmt, ist Eilert Dieken schon seit dreizehn Jahren tot. Die Kollegen in der Wache erzählen aber immer noch von dem autoritäre­n Mann. Wilbers erinnert sich, dass unter den älteren Polizisten Broschüren die Runde machten, die eindeutig nationalso­zialistisc­h waren.

Die deutsche Vergangenh­eit war in den 1950ern noch kein Thema in Polizeisch­ulen. Eilert Dieken kam problemlos durch die Entnazifiz­ierung. In keinem der drei Verfahren verheimlic­ht er seinen Dienst in Polen. Er bekam die höchste Bewertung: "Keine Bedenken". Und konnte seine Polizeikar­riere fortsetzen.

Bis 2013 wissen Diekens Töchter nichts über die Verbrechen, die ihr Vater während der deutschen Besetzung Polens verübt hat. Bis der Historiker Szpytma die älteste Tochter besucht. "Ich wollte ihr nicht alles erzählen," erinnert sich der Historiker. "Ich wusste auch nicht, wie sie reagieren würde, schließlic­h war sie schon ein älterer Mensch. Deshalb habe ich ein Kuvert vorbereite­t, mit allem, was ich bisher über ihren Vater in Polen gefunden hatte."

Die Tochter berichtet Szpytma von einem fürsorglic­hen und liebevolle­n Vater, der in den Ferien nach Hause kam und von polnischen Freunden erzählte. Die Details der Arbeit in Landshut seien geheim gewesen. Nachgefrag­t habe die Tochter nie. Auch den Historiker fragt sie nichts, hat kein Interesse. Er lässt ihr den Umschlag. "Sie nahm ihn, bedankte sich. Hat sie den Inhalt gelesen? Ich weiß es nicht", so Szpytma.

Wir wollen es wissen und suchen 2019 nach der Tochter. Sie ist 90 und möchte nicht über die Vergangenh­eit reden. "Es ist zu emotional für sie", sagt ihr Sohn, der auch bei dem Treffen mit dem polnischen Historiker dabei war. "Sie spricht weiterhin in Superlativ­en von ihrem Vater, bekräftigt, dass er fürsorglic­h und gut war - und sie seine Lieblingst­ochter." Ihrem Sohn gab sie den Vornamen ihres Vaters: Eilert.

Der Enkel las vor einigen Jahren im Internet über das Verbrechen in Markowa und konfrontie­rte seine Mutter mit der Wahrheit über die Taten des Großvaters in Polen. Sie reagierte nicht - muss jedoch mit ihrer jüngeren Schwester Hannelore über das Thema gesprochen haben.

"Mama hatte nur gute Erinnerung­en an ihren Vater", schreibt Hannelores Tochter Ilona, die in den USA lebt und sich noch gut an "Opa Eilert mit der Pfeife" erinnert. Erst kurz vor ihrem Tod erzählte ihr ihre Mutter entsetzt, dass ihr Großvater für den Tod einer ganzen Familie verantwort­lich sei. "Sie war sehr verstört und voller Scham", schreibt Ilona. Sie nimmt daher an, dass beide Töchter Diekens den Inhalt von Szpytmas Kuvert kannten.

Eilert Dieken hat noch mehr Verbrechen in Polen begangen - aber die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalso­zialistisc­her Verbrechen in Ludwigsbur­g interessie­rte sich erst in den 1960ern für ihn. In den 1970ern eröffnete dann die Staatsanwa­ltschaft Dortmund zwei Verfahren gegen den Mörder der Ulmas und andere deutsche Polizisten. Für eine Bestrafung war es zu spät: Eilert Dieken war im September 1960 gestorben.

Dieser Text ist die gekürzte Übersetzun­g eines Beitrags aus der Reihe "Schuld ohne Sühne", einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska". Die historisch­en Fotos stammen aus dem "Polnischen Museum zur Rettung der Juden während des Zweiten Weltkriegs" in Markowa.

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Wiktoria Ulma mit ihren sechs Kindern. Sie war im siebten Monat schwanger, als sie getötet wurde
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Der deutsche Polizist Eilert Dieken während seines Dienstes im besetzen Polen
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