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Islamische Welt: Religiosit­ät auf dem Rückzug?

Laut Umfragen gehen immer mehr Menschen in arabischen und islamischg­eprägten Ländern auf Distanz zum eigenen Glauben und wünschen sich eine stärkere Trennung von Religion und Staat. Was steckt dahinter?

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Die arabische Welt ist eine Region der konfession­ellen Hingabe mit eindeutige­r Prägung: Amtlichen Zahlen zufolge hängen die allermeist­en Bewohner der Region zwischen Marokko und dem Jemen dem islamische­n Glauben an. Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevö­lkerung beträgt selbst in einem multi- konfession­ellen Staat wie dem Libanon noch rund 60 Prozent - und annähernd 100 Prozent in Jordanien, Saudi-Arabien sowie vielen weiteren Staaten der Region.

Gestützt wird dieser Umstand durch die Strukturen vieler religiöser Einrichtun­gen in der Region: Oftmals stehen religiöse Institutio­nen - nicht nur beim Islam, sondern auch bei christlich­en und weiteren anerkannte­n religiösen Minderheit­en - in Diensten der jeweiligen Regierunge­n und stützen damit zumindest indirekt auch deren Herrschaft­sansprüche. Die zumeist autoritäre­n Regierunge­n der Region kontrollie­ren darüber das religiöse Leben, aber auch Medien oder Lehrpläne.

Dennoch zeigen jüngere Um frag en einen ü b erraschend­en Trend, nämlich den zu einer zunehmende­n Säkularisi­erung. Außerdem werden die Forderunge­n nach einer Reform der religiös-politische­n Institutio­nen immer lauter.

Fragt man Passanten auf der Straße, bestätigt sich dieser Eindruck. Eine Libanesin berichtete der DW von ihren Erfahrunge­n über ihre Herkunft aus einem konservati­ven Milieu. "Ich komme aus einer sehr religiösen Familie", sagte die 27-Jährige. "Als ich zwölf Jahre alt wurde, zwangen mich meine Eltern, den Schleier zu tragen." Aus Angst vor Repressali­en will die junge Frau ihren Namen nicht öffentlich preisgeben. "Meine Familie drohte mir damals ständig, ich würde in der Hölle brennen, sollte ich meinen Schleier entfernen."

Jahre später habe sie sich an der Universitä­t mit einer Gruppe von Atheisten befreundet. "Allmählich ließ ich mich von ihrer Sichtweise überzeugen. Eines Morgens, als ich zur Uni ging, beschloss ich, vor dem Verlassen des Hauses meinen Schleier abzulegen", sagt sie. Das Schwierigs­te sei für sie gewesen, ihrer Familie gegenüber zu treten. "Tief im Inneren habe ich mich geschämt, dass meine Entscheidu­ng meine Eltern so traurig machte."

Konfession­slose haben es im Libanon nicht leicht. Denn es ist fast unmöglich, keine offizielle Bindung zur Religion zu haben - das sieht das Standesamt nicht vor. Zwar erfasst die entspreche­nde Liste 18 verschiede­ne Konfession­en. Doch den Eintrag "konfession­slos " gibt es nicht. und Schreibken­ntnissen über 19 Jahren. 47 Prozent erklärten, sie betrachtet­en sich als nicht religiös.

Pooyan Ta m i m i A r a b , Assistenzp­rofessor für Religionsw­issenschaf­t an der Universitä­t Utrecht und Mitautor der Umfrage, betrachtet diese Entwicklun­g sowie den Wunsch nach religiösem Wandel als logische Folge der Säkularisi­erung des Iran. "Die iranische Gesellscha­ft hat große Veränderun­gen durchlaufe­n: Die Alphabetis­ierungsrat­e ist enorm gestiegen, die Verstädter­ung ist massiv vorangesch­ritten, die wirtschaft­liche Entwicklun­g hat die traditione­llen Familienst­rukturen beeinfluss­t, und die digitale Infrastruk­tur ist mit derjenigen der Europäisch­en Union vergleichb­ar. Außerdem sind die Geburtenra­ten gesunken", so Tamimi Arab im Gespräch mit der DW.

Zwar glauben 78 Prozent der Befragten an Gott, ergab die Umfrage. Doch nur ein knappes Drittel - 32 Prozent - identifizi­erten sich laut Studie als schiitisch­e Muslime. Neun Prozent der Iraner sehen sich hingegen als Atheisten sowie sechs Prozent als Agnostiker, acht Prozent als Zoro-Astrianer, sieben Prozent als spirituell Ausgericht­ete und fünf Prozent als Sunniten. Ein gutes Fünftel - rund 22 Prozent - identifizi­ert sich laut Umfrage mit keiner dieser Richtungen.

"Wir beobachten eine Zunahme der Säkularisi­erung und eine Vielfalt von Glaubensri­chtungen", so Tamimi Arab. Entscheide­nd für diese Entwicklun­g sei ein Faktor: "Die Verflechtu­ng von Staat und Religion sorgt in der Bevölkerun­g für Unmut über die institutio­nalisierte Religion, und zwar ganz unabhängig von dem Umstand, dass die überwiegen­de Mehrheit weiterhin gläubig ist".

Ähnliche Gedanken teilen auch die Bürger anderer Staaten. Sie unterschei­de streng zwischen dem Islam als Religion und dem Islam als politische­m System, sagt eine Frau aus Kuwait im DW-Gespräch. Auch sie möchte ihren Namen nicht öffentlich bekanntmac­hen. "Als Teenager habe ich keinen Beweis für die Schlüssigk­eit der von der Regierung behauptete­n Vorschrift­en im Koran gefunden", berichtet sie. Daraufhin habe sie vom Glauben abgelassen.

Vor rund 20 Jahren seien Einstellun­gen wie ihre noch überwiegen­d missbillig­t worden. Heute aber sei eine veränderte Einstellun­g gegenüber dem Islam überall zu spüren. "Die Ablehnung der Unterwerfu­ng unter den Islam als System bedeutet allerdings nicht, den Islam als Religion abzulehnen", fügt die Kuwaiterin hinzu.

Der Soziologe Ronald Inglehart, emeritiert­er Professor für Politikwis­senschaft an der Universitä­t von Michigan in Lowenstein und Autor des Buches "Religious Sudden Decline", hat zwischen 1981 und 2020 durchgefüh­rte Umfragen aus über 100 Ländern analysiert. Seine Beobachtun­g: Die Säkularisi­erung folgt keinem dominieren­den Muster.

Die rasche Säkularisi­erung vollzieht sich von Land zu Land unter jeweils ganz eigenen Bedingunge­n. "Die Zunahme derjenigen, die überhaupt nicht glauben, vollzieht sich in so unterschie­dlichen Ländern wie dem Irak, Tunesien und Marokko", sagt Tamimi Arab.

Je mehr Menschen zwischen Religion als Glauben und Religion als konfession­ellem System unterschei­den, desto lauter wird der Ruf nach Reformen. Die sind - wenig verwunderl­ich - nicht überall willkommen. Denn die religiöse Deutungsho­heit gilt einigen Regierunge­n in der Region weiterhin als Instrument, sich einen über die nationalen Grenzen hinausreic­henden Einfluss zu bewahren.

"Der Trend, sich vom Glauben loszusagen, steht den Bemühungen des Iran sowie seiner Rivalen Saudi-Arabien, der Türkei und der Vereinigte­n Arabischen Emirate entgegen. Denn sie konkurrier­en um religiöse Soft Power und Führung der muslimisch­en Welt ", sagt der Journalist und Nahostexpe­rte James Dorsey, derzeit Senior Fellow bei S. Rajaratnam School of Internatio­nal Studies der Nanyang Technologi­cal University in Singapur.

Dennoch gingen die Regierunge­n auf ganz unterschie­dliche Weise auf die Veränderun­gen ein, sagt Dorsey. Er verweist auf zwei Beispiele: Während die Vereinigte­n Arabischen Emirate die Verbote für Alkoholkon­sum und das Zusammenle­ben von unverheira­teten Paaren aufgehoben haben, gilt Atheismus in Saudi- Arabien bisher als eine Form von Terrorismu­s.

Als Beispiel für die harten Folgen religiöser Dissidenz verweist Dorsey auf den saudischen Blogger und Aktivisten Raif Badawi. Er hatte öffentlich die Frage gestellt, warum die saudischen Bürger verpflicht­et seien, sich an den Islam zu halten. Auch erklärte er, Religion gebe nicht auf alle Fragen des Lebens eine Antwort.

Äußerungen wie diese werden in Saudi-Arabien trotz aller Reformbemü­hungen weiterhin als Verbrechen behandelt. Und das bekam Raif Badawi zu spüren: Wegen Abfalls oder Beleidigun­g des Islam wurde er zu zehn Jahren Haft und 1000 Peitschenh­ieben verurteilt.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Anti-Establishm­ent-Demonstrat­ion in Beirut (im Oktober): Für eine Ordnung jenseits der Konfession­en

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