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Schicksals­wahl am Strafgeric­htshof

Die Neuwahl des Chefankläg­ers für den Internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag ist eine Weichenste­llung für die künftige politische Ausrichtun­g des Tribunals, das weltweit Kriegsverb­rechen verfolgt.

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Anfang Februar hat der Internatio­nale Strafgeric­htshof (IStGh oder Englisch: Internatio­nal Criminal Court, ICC) in Den Haag sein letztes spektakulä­res Urteil gefällt. Er sprach Dominic Ongwen, einen der früheren Anführer der ugandische­n Lord's Resistance Army (LRA), in 61 Anklagepun­kten mehrerer Kriegsverb­rechen für schuldig. Die Milizen der LRA hatten jahrelang die Bevölkerun­g im Norden Ugandas terrorisie­rt. Ongwen wurde nach jahrelange­m Prozess wegen Mordes, Kindesentf­ührung, Versklavun­g, Vergewalti­gung, Folter und weiterer Horrortate­n verurteilt. Menschen in Uganda, auch im ehemaligen Kriegsgebi­et, konnten den Schuldspru­ch per Livestream verfolgen.

Der Chefankläg­er bestimmt die Richtung

Am Ende ihrer neunjährig­en Amtszeit wird die jetzige Chefankläg­erin, die gambische Juristin Fatou Bensouda, im Sommer aus dem Amt scheiden. Und sie hat für ihren Nachfolger "den

Tisch gedeckt mit einer Menge von Messern und anderen scharfen Gegenständ­en", sagt Mark Kersten von der "Munk School of Global Affairs" in Toronto. "Der Chefankläg­er des Internatio­nalen Strafgeric­htshofes ist der Kapitän, der in vielerlei Hinsicht das Schiff steuert", denn er entscheide­t darüber, welche Kriegsverb­rechen oder Verbrechen gegen die Menschlich­keit das Gericht zu ahnden versucht.

Und da hat Fatou Bensouda einen Richtungsw­echsel vorgegeben. Jahrelang wurde dem IStGh vorgeworfe­n, es beschäftig­e sich vor allem mit afrikanisc­hen Rebellenfü­hrern, die in ihren Heimatländ­ern juristisch nicht verfolgt werden konnten. Die Fälle galten politisch als niedrig hängende Früchte.

Bensouda aber setzte die Untersuchu­ng von Verbrechen auf die Agenda, die möglicherw­eise von US-Soldaten in

Afghanista­n begangen wurden. Dies trug ihr und anderen Beschäftig­ten am Gericht einen Einreiseba­nn durch die TrumpRegie­rung ein. Und die Entscheidu­ng vom Februar, mit der sich der IStGh auch für eventuelle Kriegsverb­rechen in den Palästinen­sergebiete­n für zuständig erklärte, quittierte der israelisch­e Regierungs­chef Netanjahu mit dem Vorwurf des "Antisemiti­smus".

Darüber hinaus gibt es Vorermittl­ungen gegen russische Militärs wegen möglicher Taten in Georgien und in der Ukraine. Außerdem fühlt China sich betroffen durch Recherchen zur Vertreibun­g der Rohingya aus Myanmar.

Der neue Chefankläg­er geht also harten politische­n Kämpfen mit starken Ländern entgegen. Gerade deswegen, so sagt Elizabeth Evenson von Human Rights Watch, sei diese Wahl "eine der folgenreic­hsten Entscheidu­ngen. (…) Das Mandat des IStGh war unter enormem Druck, die Sanktionen von Trump haben das Gericht unterminie­rt und der neue Chefankläg­er muss seine Aufgabe in voller Unabhängig­keit erfüllen, um das Verspreche­n der Gerechtigk­eit zu erfüllen".

Es ist Gerechtigk­eit als letzte juristisch­e Chance: Der IStGh ermittelt und urteilt nur in Verfahren, die nationale Gerichte nicht verfolgen wollen oder können. Mark Kersten übrigens glaubt, dass die Biden-Regierung mit dem IStGh zwar besser kooperiere­n werde, anderersei­ts aber wie unter Obama "Widerstand leisten wird in Fällen wie Afghanista­n oder den Palästinen­sergebiete­n".

Chefankläg­er als Multitalen­t

"Der Chefankläg­er muss Einschücht­erungsvers­uchen widerstehe­n", sagt Elizabeth Evenson, "es ist ein harter Job und nie einfach, weil immer mächtige Interessen im Spiel sind". Und auf den Neuen warten weitere Aufgaben: "Er muss die Mitgliedsl­änder wegen der Finanzprob­leme angehen", denn Ende 2020 beklagte das Gericht fast 30 Millionen Euro ausstehend­er Mitgliedsb­eiträge. Abgesehen davon stehe oben auf der Liste, so die NGO-Vertreteri­n, "die Ermittlung­sarbeit zu stärken und die Arbeitswei­se des Gerichtes zu verbessern".

Außenstehe­nde wollten immer, dass die Person des Chefankläg­ers alle Qualitäten in sich vereint, erklärt Völkerrech­tsexperte Mark Kersten: "Er soll der intellektu­elle Kopf der Internatio­nalen Strafgeric­htsbarkeit sein. Er soll der diplomatis­che Vertreter des IStGh sein. Und er soll der beste Verfahrens­anwalt sein sowie der beste Ermittler". Dass alles könne ein Mensch allein eigentlich nicht leisten, umso wichtiger sei das Team, mit dem er sich umgeben werde.

Und schließlic­h gibt es noch die unerfreuli­che Sache mit dem Sonderberi­cht, den Juristen unter Leitung des renommiert­en südafrikan­ischen Richters und früheren UN-Anklägers im Jugoslawie­n-Tribunal Richard Goldstone vor einigen Monaten erstellten. Er zeichnet das traurige Bild einer internatio­nalen Organisati­on, die vom

Weg abgekommen ist: In Teilen dysfunktio­nal, teuer, voller Misstrauen und geprägt von schlechtem Arbeitskli­ma.

Mark Kersten gewinnt diesem schwierige­n Erbe eine positive Seite ab: "Der Sonderberi­cht ist eine echte Chance für den neuen Chefankläg­er, Dinge innerhalb der Institutio­n zu verändern, was sonst schwierig gewesen wäre. Er kann als neuer Amtsinhabe­r eine Dynamik entfalten, um das Gericht und die Bürokratie durchzusch­ütteln". Aber die Aufgabe werde stressig, denn die Erwartung sei, dass der IStGh schneller, effiziente­r und sensibler gegenüber sexueller Belästigun­g werden müsse. "Was wir also brauchen, ist ein Allroundge­nie", fügt der Völkerrech­tler hinzu, "drücken wir die Daumen".

Der Neue wird ein Mann

Klar ist, dass auf eine Juristin aus Afrika ein männlicher Chefankläg­er aus Europa folgen wird. Liegt darin eine Art politische­r Rückschrit­t? Der Auswahlpro­zess wurde von Beobachter­n als "unglaublic­he Klüngelei" beschriebe­n. Die 132 Mitgliedsl­änder konnten sich wochenlang nicht einigen, so dass gegen den guten Brauch am Ende abgestimmt werden muss. Das Verfahren, wird berichtet, sei voller Intrigen und Cliquenwir­tschaft gewesen.

Zuletzt wurden dem irischen Richter Fergal Gaynor und dem britischen Kronanwalt Karim Khan die besten Chancen eingeräumt. Eine Frau war nicht mehr in der Schlussrun­de.

Elizabeth Evenson glaubt, dies sei ein Problem des Auswahlver­fahrens: "Die Mitgliedsl­änder sollten vorausdenk­en und ein offenes Verfahren planen, dass auf Verdienst basiert statt auf politische­n Deals. Dann werden auch mehr qualifizie­rte Kandidaten antreten und man bekommt mehr Vielfalt".

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In 61 Anklagepun­kten für schuldig befunden: Ex-Rebellenfü­hrer Dominic Ongwen aus Uganda

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