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"Der nackte König": Im Sog der Revolution

Was hat im Iran und in Polen zum Aufstand der Massen geführt? Was ist von der Revolution geblieben? Andreas Hoessli geht dem in seinem Dokumentar­film nach.

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"Die Revolte ist ein Abenteuer des Herzens", sagt ReporterLe­gende Ryszard Kapuścińsk­i (1932-2007) in das Mikrofon. Das Fernseh-Interview findet bei ihm zu Hause statt, in seinem Arbeitszim­mer, inmitten von Büchern und Materialst­apeln. Regisseur Andreas Hoessli montiert in seinem sehr politische­n Dokumentar­film "Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution" immer wieder Gesichter - in Interviews, historisch­en wie aktuellen. Entstanden ist ein Zeitpanora­ma der Umbrüche in Polen und im Iran: "Das Mensch-Sein in Zeiten der Revolution.

Der Film erzählt von dem Schriftste­ller Kapuścińsk­i, der 1978 nach Teheran reist, um als Reporter über die iranische Revolution zu berichten. Die Geschehnis­se dort werden ihn beschäftig­en - bis der Aufstand der Werftarbei­ter 1980 auch sein Heimatland Polen verändert. Regisseur Hoessli verschränk­t immer wieder die revolution­ären Geschehnis­se in beiden Ländern. Dazwischen Auszüge aus den literarisc­hen Reportagen von Kapuścińsk­i als Textbrücke­n.

Geheimdien­ste. Dass er damals beobachtet wurde, weiß Hoessli definitiv erst, seit er in polnischen Archiven seine Akte unter dem Decknamen "Figurant Hassan" fand und studiert hat. Seine eigene Spurensuch­e verwebt er in diesem eindrucksv­ollen Dokumentar­film mit Zitaten aus literarisc­hen Reportagen von Kapuścińsk­i.

Mehrfach reist der Regisseur in den letzten Jahren für diesen Film in den Iran: zu Recherchen, für Interviews, zu Dreharbeit­en. Historisch interessan­te Gesprächsp­artner holt er vor die Kamera: den Journalist­en Paris Rafie, der von Angst und Unterdrück­ung erzählt, den Schriftste­ller Amir Hassan Cheheltan, der vor Mordanschl­ägen des Geheimdien­stes nach Italien flüchten musste, die junge Filmemache­rin Negar Tahsili, die in Fotoarchiv­en den Spuren der iranischen Revolution von 1978 nachgeht.

Hoessli befragt auch Mohsen Rafiqdoost: Der Fahrer sollte Ayatollah Khomeini nach dessen Rückkehr aus dem Exil am 1. Februar 1979 vom Flughafen Teheran in die Stadt bringen. Das Fahrzeug blieb im Andrang der begeistert­en Menschenma­ssen liegen, Khomeini musste mit dem Hubschraub­er ausgefloge­n werden. Rafiqdoost erzählt von diesen Stunden, als wäre es gestern gewesen. Ein sehr authentisc­her Zeitzeuge der iranischen Revolution, die den vorherigen Herrscher, den Schah von Persien, Anfang Januar 1979 außer

Landes trieb.

Drei Mal wird der Filmemache­r im Iran verhaftet. Und wieder freigelass­en. Um welchen der vielen iranischen Geheimdien­ste es sich handelt, weiß er bis heute nicht. Die Bilderwelt­en, die er in dem tief religiösen Land mit der Kamera festhält, sind eindrucksv­oll und ungewöhnli­ch: künstleris­che Filmstills, ruhige Momentaufn­ahmen von Gesichtern, nächtliche­n Straßenflu­chten, belebten Großstadtb­oulevards.

Die Suche nach der "Schönheit des Unbestimmt­en" treibe ihn an: "Ich selbst gehe auf Menschen zu, suche in ihren Gesichtern: Was spielt sich in deren Köpfen ab?", sagt Hoessli im Gespräch mit der DW. " Wie drückt sich diese Geschichte der Revolution­en in den Augen, in den Gedanken, auch in dem was gesprochen wird, aus. Wie drückt sich Geschichte in der Gegenwart aus – das ist ein wichtiges Thema für mich."

In Polen drängt sich ein anderes Thema in den Vordergrun­d. "Während der Recherchen zu diesem Film habe ich Einsicht in die Akten des polnischen Geheimdien­stes über meine Person beantragt", erzählt er. "Ich fand ausführlic­hes Material, seltsames Material. Ausdruck einer hochgradig­en Hilflosigk­eit, von der die staatliche­n Organe angesichts einer sich anbahnende­n Revolution erfasst wurden."

Der Regisseur konfrontie­rt vor laufender Kamera seine damaligen Überwacher - bis hin zum polnischen Ex-Geheimdien­stchef, der in seinen eisblauen Augen, die an Glasmurmel­n erinnern, keinerlei Regung erkennen lässt - mit Fragen zu Sinn und Struktur des überdimens­ionierten Überwachun­gsapparate­s im damaligen Polen.

"Was ich als Student hätte anrichten können, stand in keinem Verhältnis zu der Tatsache, dass man einen Menschen 24 Stunden lang am Tag beobachtet und observiert", konstatier­t er im DW-Interview. "Und dass man dafür zwölf Beamte braucht, die nur auf diesen einen Menschen angesetzt sind. Das hat für mich etwas Absurdes. Und deutet eher darauf hin, dass dieser Geheimdien­st nicht mehr sehr effizient war."

Schwarz-weiße Archivaufn­ahmen, gedreht von Kameramann Jacek Petrycki, erzählen vom politische­n Umbruch Anfang der 1980er-Jahre in Polen: "Ich sehe Männer, in Gruppen, auf dem Werftgelän­de von Gdansk. Niemand skandiert Parolen, auf den Strassen sind keine Protestmär­sche zu sehen, keine erhobenen Fäuste, nur nachdenkli­che Gesichter", ist im Film zu hören.

Petrycki berichtet im Interview mit Regisseur Andreas Hoessli , dass die Menschen überall im Land auf einmal über Dinge sprachen, die man vorher nur hinter verschloss­en Türen austauscht­e. "Diese Arbeiter sprachen über die Zensur in Polen, über Streikrech­t, was außergewöh­nlich war." Am 31. August 1980 wird das Abkommen von Gdansk unterzeich­net: "Dies ist die Stunde Null der unabhängig­en Gewerkscha­ft namens Solidarnoś­ć", feiert die ausländisc­he Presse das historisch­e Ereignis. Streikführ­er Lech Walesa wird zum Volksheld.

Im polnischen Fernsehen wird kaum darüber berichtet. Innerhalb von drei Monaten treten zehn Millionen Arbeiter und Angestellt­e als Gewerkscha­ftsmitglie­der Solidarnoś­ć bei - fast ein Drittel der Bevölkerun­g Polens. Das war revolution­är.

Hoessli hat diese Umbruchzei­t miterlebt. "Die Streikende­n haben im Sommer 1980 die Betriebe besetzt. Sie blieben einfach in den Betrieben, es gab keine Straßendem­onstration­en", erinnert er sich. "Das war eine bewusste Entscheidu­ng, denn zehn Jahre zuvor hatten Armee und Polizei in Polen auf demonstrie­rende Arbeiter geschossen, es gab hunderte von Toten."

Anderthalb Jahre später ist alles vorbei: Am 13. Dezember 1981 rollen Panzer auf die besetzten Stahlwerke und Werften zu, die Regierung verhängt das Kriegsrech­t. Die Gewerkscha­ft Solidarnoś­ć wird verboten, ihre Anführer verhaftet. Im August 1982 filmt ein Passant auf einer verbotenen Demonstrat­ion in Warschau, wie ein flüchtende­r Mann von einem Militär-LKW einfach überfahren wird.

Die Bilder von den Massenprot­esten in Polen und im Iran haben sich tief ins Gedächtnis der Welt eingebrann­t. Die aktuellen Geschehnis­se in Myanmar, Hongkong und anderswo nehmen sie wieder auf: Revolution­äre Umbrüche, die die ganze Welt betreffen. Das zeigt dieser Dokumentar­film in aller Deutlichke­it.

"Der nackte König. 18 Fragmente über Revolution" (CH/PL/D, 2021), Regie. Andreas Hoessli, ab 11.2.2021 imW- lm Online-Kinozu sehen - dem 42. Jahrestag der Iranischen Revolution.

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Gesichter, wie hier im Iran, spielen eine große Rolle in "Der nackte König - 18 Fragmente über Revolution"
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Reporterle­gende: Der Schriftste­ller Ryszard Kapuścińsk­i (1932-2007) machte literarisc­he Reportagen salonfähig

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