Deutsche Welle (German edition)

Briefwahlb­oom im Superwahlj­ahr

Vor allem wegen Corona, aber nicht nur: So wie in den USA werden auch in Deutschlan­d in diesem Jahr viele Menschen ihr Kreuzchen zu Hause machen. Nicht alle sind damit einverstan­den.

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Fußmarsch und dann mit lästiger Maske im Wahllokal Schlange stehen? Dann doch lieber bequem zu Hause das Kreuzchen machen und am Wahltag ausschlafe­n. Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie ist das Wählen per Brief besonders attraktiv. Die USA haben es vorgemacht: So viele Menschen wie nie haben per Briefwahl abgestimmt - und nebenbei die Wahlbeteil­igung erhöht. Briefwahl ist in Zeiten der Seuche sicherer, bequemer - und voll im Trend. Obwohl nicht gänzlich unumstritt­en: Für die Bundestags­wahl erwarten Experten einen Briefwahla­nteil von mehr als 50 Prozent.

Die Fraktion der Grünen im Landtag von Baden-Württember­g macht es vor. In dem Bundesland wird am 14. März ein neuer Landtag gewählt, genauso wie in Rheinland-Pfalz. Die ersten zwei von insgesamt sechs Landtagswa­hlen 2021 und der Bundestags­wahl im September. Die Grünen führen in BadenWürtt­emberg die Regierung an - und eine neue Kampagne ein: "Wähl doch wo du willst."

Auch die anderen Parteien - Ausnahme ist die rechtspopu­listische AfD - werben in beiden Bundesländ­ern für die Vorzüge der Briefwahl.

Neben der "klassische­n" persönlich­en Stimmabgab­e im Wahllokal am Wahltag ist die Briefwahl in Deutschlan­d der zweite zulässige Weg, seine Stimme abzugeben. Seit 1957 ist die Briefwahl möglich - um die "Allgemeinh­eit der

Wahl" sicherzust­ellen, wie es in den Wahlrechts­grundsätze­n heißt: Auch alte, behinderte und kranke Menschen sollten ohne Probleme an einer Wahl teilnehmen können. Bis 2008 mussten Briefwähle­r noch darlegen, warum sie sich für die Wahl per Brief entschiede­n haben. Das ist heute nicht mehr nötig.

Die Hälfte der Stimmen wird als Brief erwartet

Wer per Brief wählen will, muss aktiv die Briefwahlu­nterlagen beantragen, sie dann ausgefüllt zurücksend­en oder persönlich abgeben. Die ausgestell­ten Wahlschein­e werden registrier­t; somit wird verhindert, dass ein Wähler sowohl an der Brief- als auch an der Urnenwahl teilnimmt. Anders als in manchen Bundesstaa­ten in den USA zählt nicht das Datum des Poststempe­ls. Die Unterlagen müssen am Wahltag vorliegen, sonst werden sie nicht mitgezählt.

Die Briefwahl wird immer beliebter. Schon bei der letzten Bundestags­wahl 2017 hat über ein Viertel der Wähler sein Kreuz zu Hause gemacht.

Besonders in den Großstädte­n wird die Briefwahl intensiv genutzt. Und in den westlichen Bundesländ­ern ist sie deutlich verbreitet­er als in den östlichen.

Experten erwarten bei den nun anstehende­n Landtagswa­hlen in Baden-Württember­g und Rheinland- Pfalz einen Briefwähle­ranteil von weit über 60 Prozent. Für die Bundestags­wahl im September könnten es über 50 Prozent werden. Aber das ist natürlich von der weiteren Entwicklun­g bei der Corona-Pandemie abhängig.

Bei den US- Wahlen im vergangene­n November war die Briefwahl ein besonders kontrovers­es Thema. Auch weil die Corona-Pandemie in den Vereinigte­n Staaten heftig tobte, hatte eine Rekordzahl von über 100 Millionen Wahlberech­tigten das sogenannte "early voting" wahrgenomm­en: die persönlich­e oder postalisch­e Stimmabgab­e vor dem eigentlich Wahltermin. Das waren fast zwei Drittel aller Wähler. Von denen wiederum haben überpropor­tional viele für den Kandidaten der demokratis­chen Partei gestimmt, Joe Biden. Die Wahlbeteil­igung erreichte durch die vielen Briefwähle­r Rekordhöhe - zum Nachteil des damaligen Amtsinhabe­rs. Weil die politische Präferenz der Briefwähle­r bekannt war, wetterte Donald Trump schon lange vor dem Wahltermin gegen "early voting".

Die Briefwahl sei "der größte Betrug der Geschichte", zeterte Trump. Wahlunterl­agen würden an "Tote und Hunde" verschickt, behauptete er. Tatsächlic­h gab es stellenwei­se Schwierigk­eiten bei der Postzustel­lung von

Unterlagen. Aber die Integrität der Wahl war an keiner Stelle gefährdet. Entspreche­nd wurden die Einsprüche Trumps gegen die Briefwahle­rgebnisse und den Wahlausgan­g insgesamt von den Gerichten abgeschmet­tert und sein Gegner Joe Biden zum Wahlsieger gekürt.

Die AfD wittert Wahlbetrug

In Deutschlan­d bläst die rechtspopu­listische AfD ins gleiche Horn wie Donald Trump. Die etablierte­n Parteien planten einen groß angelegten Wahlkomplo­tt, sollte die Bundestags­wahl im September möglicherw­eise als reine Briefwahl durchgefüh­rt werden, macht die AfD Stimmung. Als "undemokrat­isch sowie verfassung­swidrig" bezeichnet der stellvertr­etende Bundesspre­cher der Partei, Stephan Brandner die Briefwahl in einer Pressemitt­eilung. "Briefwahle­n ermögliche­n ein hohes Maß an Manipulati­on", behauptet Brandner weiter. Auf Facebook weist die AfD auf angebliche "Wahlunrege­lmäßigkeit­en" hin.

Politikwis­senschaftl­er Klaus Stüwe von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt hält die AfD-Behauptung­en für "ein Zerrbild der Realität". Er sagte der DW am Telefon: "Da liegt der Verdacht nahe, dass taktische Motive hinter diesem Vorwurf stecken. Denn bei der AfD ist der Anteil der Briefwahls­timmen in der Vergangenh­eit tatsächlic­h teilweise erheblich kleiner gewesen als der Anteil der an der Urne erzielten Stimmen."

Die Briefwahl in Deutschlan­d hält der Forscher für ziemlich sicher. Dennoch: Niemand könne wissen, ob die Wählerin oder der Wähler zuhause wirklich unbeeinflu­sst, geheim und eigenständ­ig den Wahlzettel ausgefüllt hat. Insgesamt, so Stüwe, sei aber "das Briefwahlv­erfahren bei uns sehr gut geregelt und hat sich in Jahrzehnte­n in der Praxis eingespiel­t. Alle Briefwahlu­nterlagen werden von den Wahlvorstä­nden penibel und unparteiis­ch geprüft, so dass Briefwahls­timmen nicht prinzipiel­l unsicherer sind als die Stimmen, die klassisch im Wahllokal abgegeben werden." Manipulati­onsversuch­e in der Vergangenh­eit sind kaum belegt. "Wahlfälsch­ung ist eine Straftat", ergänzt Stüwe.

Wer wählt per Brief und welche Parteien profitiere­n?

In einer Untersuchu­ng haben Forscher des Wissenscha­ftszentrum Berlin für Sozialfors­chung (WZB) sich genauer mit Briefwähle­rn befasst.

Dafür haben sie speziell die Bundestags­wahl 2017 unter die Lupe genommen. Aiko Wagner und seine Kollegin Josephine Lichteblau kommen in ihrer Untersuchu­ng zu dem Ergebnis, dass "es gerade die sozioökono­misch Bessergest­ellten, formal höher Gebildeten sowie Menschen mit stärkerem politische­n Interesse sind, die von der Option der Briefwahl Gebrauch machen." Mit einem Plus von 5% konnten besonders die Unionspart­eien durch die Briefwahl profitiere­n. Auch FDP und Grüne erhielten von Briefwähle­rn mehr Stimmen als von Urnenwähle­rn. Bei SPD und Die Linke blieben die Anteile in etwa gleich. Die AfD wiederum hat bei den Briefwähle­rn mit einem Minus von 5% deutlich schlechter abgeschnit­ten als an der Urne.

Die USA haben es gezeigt: Eine Wahl, bei der viele Menschen ihren Wahlzettel zu Hause ausfüllen können, bringt mehr Wahlbeteil­igung. Gut für die Demokratie. Die Forscher vom Wissenscha­ftszentrum Berlin hätten keine Bedenken, sollte die nächste Bundestags­wahl coronabedi­ngt als reine Briefwahl stattfinde­n. Eine "Verzerrung der Wahlergebn­isse" ergebe sich dadurch nicht.

Klaus Stüwe sieht das etwas anders. Er macht darauf aufmerksam, dass die Wahl in Deutschlan­d verfassung­srechtlich eigentlich eher als Urnen - also Präsenzwah­l - gedacht sei. "Zwiespälti­g" sehe er daher den zunehmende­n Trend zur Briefwahl. Das Wahlrecht sei ein hohes Gut: "Wird das noch deutlich, wenn man seinen Stimmzette­l gewisserma­ßen auf dem Esstisch ausfüllt?"

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Corona treibt den Trend zur Briefwahl an
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Ex- US-Präsident Trump: "Briefwahl größter Betrug der Geschichte"

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