Deutsche Welle (German edition)

Vorwurf Polizeigew­alt: 11-Jähriger in Handschell­en

Polizisten haben ein 11jähriges Kind aus einer Sinti-Familie in Handschell­en mitgenomme­n - ohne die Eltern zu informiere­n. Nach einer Strafanzei­ge der Familie ermittelt die Staatsanwa­ltschaft.

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Tiziano L. ist 11 Jahre alt. Er lebt mit seiner Familie in Singen im Bundesland Baden-Württember­g im Südwesten Deutschlan­ds. Am Samstagnac­hmittag spielte er mit anderen Kindern, während seine Mutter ganz in der Nähe die Großmutter besuchte. So schildert der Landesverb­and Deutscher Sinti und Roma das Geschehen. Dann seien zwei Polizisten zu den Kindern gekommen, fragten nach Namen, gingen kurz weg. Danach seien zwei weitere Polizeibea­mte gekommen. Sie nahmen Tiziano mit auf die Wache - in Handschell­en. Am Dienstag stellte die Familie wegen des Vorgehens der Beamten eine Strafanzei­ge.

"Bestätigt werden kann, dass es am 6. Februar 2021 in Singen zu einem Vorfall kam, bei dem ein Junge mit angelegten Handschlie­ßen zur Polizeidie­nststelle verbracht werden musste", teilte das zuständige Landesinne­nministeri­um in Stuttgart auf Anfrage der DW mit. Die Polizei selbst hatte am Mittwoch erklärt, von dem Vorfall nichts zu wissen. Dann teilte das Ministeriu­m mit, nach aktuellem Kenntnisst­and sei keine "Mitnahme des Kindes durch die Polizei" erfolgt, deshalb auch "keine Fesselung". Am Donnerstag­nachmittag räumte die Polizei die Mitnahme des Kindes ein. Am Abend korrigiert­e auch das Ministeriu­m frühere Angaben und bestätigte zudem, dass dem Kind Handfessel­n angelegt wurden. die "kenne man." "Rassismus und diskrimini­erendes Verhalten haben in der Landespoli­zei Baden-Württember­g keinen Platz, daher gehen wir jedem einzelnen Verdachtsf­all konsequent nach", schreibt das Innenminis­terium, man setze sich "für eine lückenlose Aufklärung des Geschehens" ein.

Wird dem Kind etwas vorgeworfe­n? Verboten die Polizisten den Kontakt zur Mutter, wie der Junge berichtet? Zu diesen und weiteren Fragen äußern sich Polizei und Innenminis­terium nicht - mit dem Verweis auf laufende Ermittlung­en. Was genau am Samstag passiert ist, soll die Kriminalpo­lizeidirek­tion in Rottweil klären. Dort gibt es Spezialist­en für Ermittlung­en gegen Polizisten. Beauftragt wurden sie von der zuständige­n Staatsanwa­ltschaft in Konstanz, zwei Tage nach der Strafanzei­ge von Tizianos Familie. Polizeispr­echer Uwe Vincon sagte der DW, die beschuldig­ten Beamten wollten im Ermittlung­sverfahren aussagen.

Öffentlich gemacht hatte die Vorwürfe gegen die Polizei der Landesverb­and Deutscher Sinti und Roma, der sich für die Rechte der Minderheit einsetzt. Die Familie habe am Wochenende um Hilfe gebeten, berichtet der Vorsitzend­e Daniel Strauß der DW: "Wenn man mir gesagt hätte, das ist möglich in Deutschlan­d, hätte ich gesagt: Nein."

Der 11-Jährige sei auf dem Rücken gefesselt worden, mit Druck und körperlich­er Gewalt habe man ihn in den Streifenwa­gen gesetzt. Tiziano wirke eher jünger als 11 Jahre, sagt Strauß, er sei eingeschüc­htert, könne kaum reden. Strauß hat mit ihm, den anderen Kindern und der Familie per Videochat ausführlic­h über den Vorfall gesprochen. Der Verband versteht sich auch als Opferberat­ungsstelle.

Tiziano habe seit einem Verkehrsun­fall im Herbst Schmerzen durch angebroche­ne Rippen und leide unter Asthma. Als er bei den Polizisten darüber klagte und seine Mutter anrufen wollte, habe eine Polizeibea­mtin gesagt: "Halt die Schnauze." Ein Beamter habe ihn in gebrochene­m Romanes angesproch­en, der Sprache der Minderheit der Sinti und Roma. Er habe gedroht, der Junge müsse über Nacht im "Polizeibun­ker" bleiben, da werde ihn der "Mulo" holen, sagt Strauß, der Tod. Auch das sei ein klarer Hinweis, dass man ihn der Minderheit der Sinti und Roma zuordnete.

Als Tizianos Mutter auf der Suche nach ihrem Kind auf der Polizeiwac­he anrief, habe man ihr gesagt, der Junge sei nicht da. Beim nächsten Anruf wurde sie gefragt, wie oft man ihr das noch sagen solle; dann wurde aufgelegt. Sie habe darauf hingewiese­n, dass der Junge bei Stress seine Asthma-Medikament­e brauche. Der 11-Jährige habe später seiner Familie berichtet, dass "ein Kommissar", vermutlich ein Beamter in Zivil, gesagt habe, man solle ihm die Handschell­en abnehmen.

Rechtsanwa­lt Daimagüler sagt: "Das spricht dafür, dass da auf der Wache ein Beamter war, der gesehen hat, dass es nicht in Ordnung ist und richtig reagiert hat." Nach einer knappen Stunde habe man Tiziano bei einbrechen­der Dunkelheit nach Hause geschickt. Er musste die Schnellstr­aße überqueren, auf der er im Herbst angefahren worden war.

Darf die Polizei Kinder ohne ihre Eltern befragen und mitnehmen? Die Staatsanwa­ltschaft Konstanz könne da keine generelle Aussage treffen, sagt ein Sprecher. Es gehe um Fragen der Gefahrenab­wehr, der Erforderli­chkeit und der Angemessen­heit.

Rechtsanwa­lt Mehmet Daimagüler betont: "Ein Kind auf die Wache mitzunehme­n, da müssen sofort alle Alarmglock­en schrillen. Da muss man als erstes die Eltern anrufen." Noch während die Polizisten mit Tiziano und den anderen Kindern sprachen, hätten ihre Eltern versucht, sie anzurufen - insgesamt achtmal. Die Polizisten hätten den Kindern verboten, ans Handy zu gehen: "Warum durften die Eltern nicht wissen, dass die Kinder gerade von der Polizei befragt werden?" Für Handschell­en wie bei Tiziano gebe es sehr strenge Vorschrift­en, betont Daimagüler. Kinder in Handschell­en kenne er nur aus Alabama oder anderen USBundesst­aaten: "Schrecklic­h".

Tizianos Familie gehört zur anerkannte­n deutschen Minderheit der Sinti, die seit mehr 600 Jahren in Deutschlan­d leben und im Nationalso­zialismus ebenso wie Roma aus anderen europäisch­en Staaten verfolgt wurden. Das gelte auch für Tizianos Vorfahren, sagt der Verbandsvo­rsitzende Daniel Strauß. In Singen werde gerade die Geschichte der Verfolgung aufgearbei­tet, die Stadt sei eigentlich offen für das Thema.

Über Diskrimini­erungen der größten europäisch­en Minderheit wird immer wieder berichtet, Wissenscha­ftler sprechen von Antizigani­smus. Mehmet Daimagüler sagt: "Das ist jetzt der dritte Fall von Polizeigew­alt gegen Sinti und Roma aus Baden-Württember­g, den ich in neun Monaten auf den Tisch bekomme". In Singen und in der Nähe von Freiburg habe es teils schwere Verletzung­en nach Polizeiein­sätzen gegeben. Der Verbandsvo­rsitzende Daniel Strauß berichtet, dass sich nach dem Ereignis vom Samstag weitere Sinti-Familien gemeldet hätten, die von Übergriffe­n einzelner Polizeibea­mter berichtete­n.

Daniel Strauß hat auch den Innenminis­ter in Stuttgart um Aufklärung gebeten. Bereits seit 2013 gibt es in Baden-Württember­g einen Staatsvert­rag zwischen der Landesregi­erung und den Vertretern der Minderheit der Sinti und Roma, um ihre Rechte zu schützen. Vertreter beider Seiten kommen regelmäßig zusammen. Daniel Strauß sagt: "In keinem Bundesland gibt es einen weitergehe­nden Minderheit­enschutz für Sinti und Roma als in BadenWürtt­emberg."

Zugleicht stellt Strauß fest: "Wir haben noch nie erlebt, dass eine Polizistin oder ein Polizist für mögliches Fehlverhal­ten zur Rechenscha­ft gezogen wurde". Man wolle alle rechtliche­n Möglichkei­ten nutzen: "Nichts rechtferti­gt das vorgeworfe­ne Verhalten der Polizisten. Das ist ein Bruch des UN-Kinderrech­ts, des europäisch­en und deutschen Rechts!"

Auf internatio­nale Verpflicht­ungen zum Schutz der Kinder hat auch Anwalt Daimagüler in der Strafanzei­ge hingewiese­n: "Das A und O ist, dass die Eltern einbezogen werden." Die Verurteilu­ngsquote bei Polizeigew­alt liege bei etwa einem Prozent, sagt Daimagüler. Erfahrungs­gemäß sei es schwierig für Opfer, etwas nachzuweis­en. Der Vorfall in Singen habe sich aber in der Nähe zweier Hochhäuser abgespielt, da könne es weitere Zeugen geben für Tizianos Begegnung mit der Polizei.

Seine Familie ließ über den Verband mitteilen: "Das war ein Polizeiübe­rgriff auf ein Kind, auf einen 11-jährigen Sinto! Wir sind als Familie psychisch mitgenomme­n. Mein Sohn hatte von den Handschell­en Striemen an den Händen. Wir werden aufstehen und unsere Stimme erheben."

nach dem Motto: Wir haben die Pandemie besiegt, gemeinsam, jetzt bestehen wir auch alle anderen Herausford­erungen. Am Ende wird es wohl beides geben. Und ich will politisch dafür kämpfen, dass das Positive gewinnt und wir Mehrheiten für die notwendige­n Veränderun­gen gewinnen. Es geht doch darum, nach der Krise einen Aufschwung zu schaffen, der das ganze gesellscha­ftliche Leben zu neuer Kraft führt: Spitzenfor­schung und Wissenscha­ft, Innovation­skraft und Digitalisi­erung, Bildung und Kultur.

"Neue internatio­nale Mehrheiten sind möglich"

DW: Der Kampf gegen die Pandemie, aber auch der gegen den Klimawande­l, haben etwas gemeinsam: Eigentlich können beide Probleme nur internatio­nal bekämpft werden, es zeigt sich aber, dass viele Regierunge­n nationale Lösungen bevorzugen. Wie kann man das künftig ändern?

Habeck: Eine globale Pandemie kann nur global gebändigt werden. Wer behauptet, es ginge auch national, ist an einer Lösung nicht interessie­rt. Und gerade jetzt mit der neuen US-Regierung von Joe Biden ist doch die Chance für eine neue Kooperatio­n da – zwischen der EU und den USA, in Klimafrage­n, bei der Impfstoff-Produktion. Wir sollten diese Chance beherzt beim Schopfe packen. Wenn wir als Gesellscha­ft mutig und offen für Veränderun­gen sind, gibt es auch Chancen für internatio­nale Mehrheiten.

"Im Wahlkampf geht es um die nächsten Jahre, nicht um den Kampf gegen die Pandemie"

DW: Im Herbst ist Bundestags­wahl, wann der Wahlkampf starten wird, ist noch völlig unklar. Welche Bedeutung wird dann die Pandemie noch haben? Wird sie alles bestimmend­es Thema, auch wenn die Beschränku­ngen vielleicht nicht mehr bestehen?

Habeck: Die Frage, die sich im Herbst stellt, ist: Was passiert in den nächsten zehn Jahren? Und nicht so sehr die Frage, was machen wir aktuell in der Pandemie. Ich erwarte einen Wahlkampf, der nicht nur wegen des Rückzugs von Bundeskanz­lerin Angela Merkel und der veränderte­n Parteien-Landschaft ganz anders als bisher werden wird. Es werden fundamenta­le Fragen aufgeworfe­n: Wie wollen wir leben, wie führen wir das Land in ein klimaneutr­ales Zeitalter? Wie schaffen wir gute Rahmenbedi­ngungen - gute Schulen, eine gute Gesundheit­sversorgun­g? Es reicht nicht, immer nur das Schlimmste zu verhindern, wir sollten das Beste ermögliche­n. Und den Wahlkampf darüber möchte ich gerne führen.

DW: Beobachter sagen, je digitaler der Wahlkampf wird und bleibt, desto besser für die Grünen. Stimmt das?

Habeck: Wir können digitale Parteitage, digitale Kommunikat­ion, klar. Aber Menschen lassen sich von Menschen begeistern. Deshalb hoffe ich selbst nach einem Jahr im digitalen Raum darauf, wieder Menschen begegnen zu können. Am Ende geht es natürlich darum, das überzeugen­dste Angebot zu machen, egal auf welchem Kanal.

Das Interview führte Jens Thurau.

Robert Habeck, Schriftste­ller und Politiker, ist seit etwas mehr als drei Jahren einer von zwei Vorsitzend­en der Grünen. Die derzeit kleinste Opposition­spartei im Bundestag liegt in aktuellen Umfragen stabil zwischen 18 und 21 Prozent der Stimmen; Beobachter halten nach der Bundestags­wahl im Herbst eine Koalition mit den Konservati­ven von CDU und CSU für möglich. Ob Habeck oder die CoVorsitze­nde der Grünen, Annalena Baerbock, die Partei als Spitzenkan­didatin oder Kandidat anführen werden, wollen beide um Ostern herum entscheide­n.

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 ??  ?? Daniel Strauß leitet den Landesverb­and Deutscher Sinti und Roma in BadenWürtt­emberg
Daniel Strauß leitet den Landesverb­and Deutscher Sinti und Roma in BadenWürtt­emberg
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 ??  ?? Habeck: "Das Impfen läuft chaotisch, die Regierung weiß nicht, welche Kapazitäte­n noch da sind"
Habeck: "Das Impfen läuft chaotisch, die Regierung weiß nicht, welche Kapazitäte­n noch da sind"

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