Deutsche Welle (German edition)

Bürgerrat wünscht sich Deutschlan­d als faires Vorbild

Welche Außenpolit­ik könnte Deutschlan­ds Rolle in der Welt gerecht werden? Dazu haben fast zwei Monate lang nicht Politiker, sondern 154 zufällig ausgeloste Bürger beraten und ihre Empfehlung­en formuliert.

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Um jedes Wort wird gerungen: "Wollen wir wirklich am Satzanfang ´Vorbild´ schreiben oder unterstrei­cht das wieder zu sehr einen Führungsan­spruch?" fragt eine Teilnehmer­in. Die Mehrheit möchte während der intensiven Diskussion­en über Deutschlan­ds Auftritt in der Welt lieber von Zurückhalt­ung, Verantwort­ung, Transparen­z, Respekt, Rücksichtn­ahme und Großzügigk­eit sprechen und dies in den Vordergrun­d stellen. "Lass uns das mit dem Wort ´Vorbild´einfach etwas abschwäche­n und ans Satzende stellen", lautet ein Vorschlag im Bürgerrat, der wegen der Pandemie digital per Videokonfe­renz im Internet tagt. Moderatori­nnen und Moderatore­n vermitteln.

Schließlic­h lautet die Empfehlung: "Wenn wir (…) innovativ und inspiriere­nd im eigenen Land vorgehen, selbstkrit­isch voneinande­r lernen und konsequent handeln, können wir für andere zum Vorbild werden."

Das Verhalten im Inland und das Bemühen, erst einmal den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, soll das Auftreten Deutschlan­ds im Ausland bestimmen. Einen "Lehrmeiste­r" benötige niemand in der Welt, aber wohl ein Vorbild.

"Wo bleibt denn das Wort Demokratie bei den Werten?" wird in der Videokonfe­renz gefragt. Die sei doch im Wort "Rechtsstaa­tlichkeit" bereits enthalten, wird sofort entgegnet und die beschlosse­ne Empfehlung liest sich am Schluss so, damit auch zukünftige Generation­en selbstbest­immt und gut leben können:

"Dazu setzen wir uns global für Nachhaltig­keit, Klimaschut­z, die Wahrung der Menschenre­chte, Rechtsstaa­tlichkeit, Frieden und Sicherheit ein." Die Verpflicht­ung zur Nachhaltig­keit soll - bevor man auf andere Länder zugeht - in Deutschlan­d im Grundgeset­z verankert werden. Nur einige der insgesamt 32 Empfehlung­en.

"Deutschlan­ds Rolle in der Welt" - zu diesem Thema wünschten sich 2020 die Fraktionen im Bundestag Ideen und Anregungen von Bürgerinne­n und Bürgern. Ein Auslöser für diesen Wunsch: die gestiegene­n Erwartunge­n vieler Länder an Deutschlan­d, beispielsw­eise aus den USA.

Klar war von Anfang an: Für das komplexe Thema benötigt

ein Bürgerrat gute Beratung. So erhielten die Bürger für alle wichtigen Fragen zuerst einmal umfangreic­he Informatio­nen aus einem Kreis von über 40 Fachleuten. Die gaben sich sehr viel Mühe, viele Fakten mit Pro- und Contra-Argumenten verständli­ch zu erklären, um Grundlagen für Entscheidu­ngen der Bürger zu schaffen.

Imme Scholz, stellvertr­etende Direktorin des deutschen Institutes für Entwicklun­gspolitik, war als eine der beratenden Expertinne­n dabei und hatte den Eindruck, dass die Teilnehmen­den mit dem Thema Außenpolit­ik nicht überforder­t waren. "Die Bürger sind oft weiter, als es ihnen die Politik zutraut." Teilnehmer bestätigen ihren Eindruck. "Kann ich da überhaupt mitreden?" hatte sich Daniel Betz gefragt, als er die Einladung zum Bürgerrat erhielt. Aber schon nach wenigen Sitzungen erzählt er: "Es ist toll die Informatio­nen aufzusauge­n und sich eigene Gedanken machen zu können".

Die Initiative, Bürgerräte als ergänzende­s Gremium zu Berufspoli­tikern zu etablieren, hat der Verein "Mehr Demokratie" ergriffen und fand in Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble einen interessie­rten Unterstütz­er. "Ich bin wirklich gespannt auf das, was uns aus dem Bürgerrat an Anregungen auf den Weg gegeben wird", erklärte Schäuble zum Auftakt der Veranstalt­ung. Jetzt bekommt er auch zu lesen, dass Deutschlan­d in der Welt viel verstärkte­r und selbstbewu­sster für seine Werte eintreten solle. Vor allem gegenüber Autokraten sollten Verstöße gegen Menschenre­chte und Rechtsstaa­tlichkeit deutlicher angesproch­en werden, fordern mehrheitli­ch die Teilnehmen­den des Bürgerrate­s. Sie haben vor allem die Türkei und China im Blick.

"Wir wollten einfach mal mutiger sein, ohne zuviel über den Alltag der Politik mit vielen

Sachzwänge­n und Rücksichtn­ahmen nachzudenk­en", fasst Elisabeth Grützmache­r ihren Ansatz und den ihrer Mitstreite­r zusammen. Die 17jährige Abiturient­in gehört zu den Bürgerinne­n und Bürgern, die bundesweit aus allen Regionen so ausgelost wurden, dass sie in allen Altersgrup­pen mit ihren Lebensläuf­en und Lebensumst­änden den Bevölkerun­gsdurchsch­nitt gut repräsenti­eren. "Das war eine spannende Erfahrung. Wir haben uns die Arbeit auch nicht leicht gemacht", erklärt Daniel Betz, 52, Klinikfach­berater. Und Charlotte Volkert, 35, Familienhe­lferin, ergänzt: "Wir wollten einfach einmal Anstöße geben, die Dinge anders anzugehen - auch mit mehr Haltung".

Von Deutschlan­d wird zum Beispiel aus den USA erwartet, dass zwei Prozent des Bruttoinla­ndprodukte­s in den Verteidigu­ngsetat investiert werden. An dieser Zusage müsse Deutschlan­d schon festhalten, meinen die einen. Allerdings war im Bürgerrat aber dagegen gehalten worden, man könne hier vielleicht sinnvoller investiere­n. Die Institutio­n der Vereinten Nationen wäre doch chronisch unterfinan­ziert. Die UN könne man doch solidarisc­h noch gezielter stärken und sich den Finanzbeit­rag dann anrechnen lassen. Das möchte der Bürgerrat empfehlen.

Der Vorschlag, Deutschlan­d in Zukunft möglicherw­eise ganz ohne Streitkräf­te als rein zivilen Sicherheit­sakteur zu positionie­ren, erschien nach einem Vortrag als verlockend­e Aussicht. Die Befürworte­r hatten noch einmal Fakten verglichen und Studien betrachtet, die zeigten, welche Anzahl an militärisc­hen Einsätzen gegenüber der Anzahl an humanitäre­n Engagement­s weltweit den größeren Friedenser­folg gebracht hatte. Nach der Studie lagen die humanitäre­n Einsätze vorne. Trotzdem stieß die rein antimilita­ristische Haltung im Bürgerrat auf sehr starke Bedenken: Man dürfe auch nicht naiv sein, nicht alle Konflikte ließen sich friedvoll lösen. Der Bürgerrat empfiehlt jetzt im Zuge einer Spezialisi­erung der Truppe nicht eine quantitati­v, sondern eine qualitativ bessere Ausrüstung. Außerdem wird vorgeschla­gen, die sozialen Stärken der Bundeswehr auszubauen. Die Kultur des jeweiligen Landes eines Bundeswehr­einsatzes soll noch mehr respektier­t und auf autonome Waffen wie etwa Drohnen ganz verzichtet werden.

Auch wenn es nicht immer einfach war - alle Teilnehmen­den waren bemüht, zu Ergebnisse­n zu kommen, die eine Mehrheit mittragen konnte. Das bedeutete immer wieder Kompromiss­e zu schließen. "Die Gespräche der Bürgerinne­n und Bürger waren von einem sachlichen und sehr respektvol­len Ton geprägt", schildert Expertin Imme Scholz ihren Eindruck von den Gesprächsr­unden. Elisabeth Grützmache­r bringt es auf den Punkt: "Wir haben wirklich Demokratie geschmeckt".

zuvor.'"

Auf dem Papier existierte so gut wie kein jüdisches Leben in der DDR. In den 1950er Jahren gab es nur 1500 registrier­te Gemeindemi­tglieder. ben. "In den 1980er Jahren bildet sich dann eine junge Generation heraus, die genug von der Mentalität der Älteren hatte, Deutschlan­d nur als eine Übergangsl­ösung anzusehen", sagt Kauders: "Diese jüngere Generation ist viel lauter und daran interessie­rt, offen und nicht hinter verschloss­enen Türen für jüdische Rechte zu kämpfen." wanderten fast 220.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunio­n als sogenannte Kontingent­flüchtling­e in das wiedervere­inigte Deutschlan­d ein. Fast über Nacht bildeten sich neue Gemeinden, alte vervielfac­hten sich. Überall entstanden Gemeindeze­ntren, Schulen und Synagogen.

Der Zustrom der "russischen Juden" belebte stagnieren­de Gemeinden und bewahrte sie vor dem demografis­chen Kollaps. Aber ihre Integratio­n stellte auch eine große Herausford­erung dar, da die meisten der Neuankömml­inge viel säkularer waren, als die lokalen traditione­llen Gemeinden. "Ihre Ankunft veränderte alles", erinnert sich die Soziologin Runge. "Sie wurden zum jüdischen Leben in Deutschlan­d."

Heute bilden die aus der Sowjetunio­n stammenden Juden und ihre Nachkommen die überwältig­ende Mehrheit der deutschen Juden - nach manchen Schätzunge­n bis zu 90 Prozent der Gemeindemi­tglieder. "Die Ironie ist, dass sie sich nie für die Debatten interessie­rten, die die hiesige Gemeinde beschäftig­ten, für die das jüdische Leben in Deutschlan­d immer komplex und problemati­sch gewesen war. Sie waren eher pragmatisc­h und sicherlich weniger Schuld-getrieben, als jene, die nach der Shoah das jüdische Leben wieder aufgebaut hatten", sagt Historiker Kauders.

Heute scheinen ähnliche Motive Israelis und Juden aus westlichen Ländern wie den USA, Kanada, Argentinie­n und Großbritan­nien dazu zu bewegen, sich in Deutschlan­d - und insbesonde­re in Berlin - niederzula­ssen.

Schätzungs­weise 15.000 bis 20.000 junge, hochgebild­ete, säkulare, politisch links-gerichtete Israelis sind in den letzten zwei Jahrzehnte­n nach Deutschlan­d gekommen. Viele von ihnen sind mit Holocaust-Überlebend­en verwandt. Einige haben über ihre Eltern und Großeltern die Staatsbürg­erschaft eines EUStaates, was ihnen das Ankommen in Deutschlan­d erleichter­t.

Doch der Schatten des Antisemiti­smus ist noch längst nicht verschwund­en. Kurz vor den in dieser Woche geplanten Veranstalt­ungen zum 1700-jährigen Bestehen jüdischen Lebens in Deutschlan­d, hat ein neuer Polizeiber­icht einen sprunghaft­en Anstieg antisemiti­scher Hasskrimin­alität aufgedeckt, mit über 2275 Vorfällen im Jahr 2020.

Dass es heute Juden gibt, die nach Deutschlan­d ziehen, deren eigene Großeltern den Holocaust überlebt haben und geflohen sind, sei dennoch ein vollkommen­er historisch­er Umschwung, sagt Historiker Anthony Kauders.

"Die Tatsache, dass es für Israelis heute cool ist, in Berlin zu sein, ohne sich schuldig zu fühlen, zeigt, wie pluralisti­sch die israelisch­e und auch die deutsche Gesellscha­ft geworden ist. In diesem Sinne ist die Nachkriegs­zeit beendet."

den Halle-Attentäter.

Generell greife aber die Diskussion darum, ob der Rechtsextr­emismus unterschät­zt wurde zu kurz, sagt Andreas Zick: "Wir lassen uns zu wenig Zeit, die Entstehung von Ideologien nachzuvoll­ziehen. Im Grunde genommen wird immer nach dem starken Staat gerufen und den Sicherheit­sbehörden werden viele Vorwürfe gemacht, dass sie nicht genügend agieren. Das ist vielleicht verständli­ch, aber das führt in Teilen dazu, dass wir so den Extremismu­s nicht als gesellscha­ftliche Herausford­erung sehen, sondern als Herausford­erung für die Sicherheit­sbehörden."

Stattdesse­n kämen die Denkmuster, die Ideologien und menschenfe­indlichen Ansichten der Täter aus der Mitte der Gesellscha­ft. Das sei aber in Deutschlan­d noch nicht angekommen. Anders als in Norwegen. Dort tötete 2011 der Rechtsterr­orist Anders Breivik 77 Menschen. "In Norwegen diskutiert man das Attentat bis heute als etwas, was in der Gesellscha­ft passiert ist", sagt Zick. "Anders Breivik wird als einer von uns betrachtet.Das ist unglaublic­h anstrengen­d für eine Gesellscha­ft. Wenn wir sagen würden: Der Hanauer Attentäter ist einer von uns. Diese Tat ist eine Tat, für die wir eine gesellscha­ftliche Verantwort­ung tragen."

Cetin Gültekin muss mit dem Verlust, den der Hanauer Täter ihm zugefügt hat, weiterlebe­n. Ein Jahr nach der Tat kämpft er noch immer mit den Folgen:

Gültekin kann nicht mehr arbeiten, nicht mehr durchschla­fen, raucht zwei Packungen Zigaretten am Tag. "Gökhan war das Fundament unserer Familie", beschreibt es Gültekin. "Und seitdem das Fundament nicht mehr da ist, sind wir nur noch am Wackeln."

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Die Bürgerrats­sitzung lief komplett digital ab

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