Deutsche Welle (German edition)
Deutschland feiert 1700 Jahre jüdisches Leben
Nach dem Holocaust schien es eigentlich undenkbar, dass noch einmal Juden in Deutschland leben würden. Zum Auftakt des Jubiläumsjahres blickt die DW auf die wichtigsten Entwicklungen der Nachkriegszeit.
Mehr als 200.000 Menschen zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland heutzutage und ist gleichzeitig die einzige wachsende jüdische Gemeinschaft in Europa - eine fast unglaubliche Erfolgsgeschichte, angesichts der Ermordung fast aller deutschen Juden und Jüdinnen. Die steigenden Gemeindezahlen sind auch deshalb bemerkenswert, weil es 1945 für die allermeisten Juden undenkbar schien, in dem Land, von dem der Genozid an sechs Millionen europäischen Juden ausging, die verlorenen Gemeinden wieder aufzubauen.
Die Alliierten befreiten mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs etwa 15.000 deutsche Juden und Jüdinnen. Die meisten hatten in Verstecken, andere die Konzentrationslager überlebt. Viele, die sich entschieden, in Deutschland zu bleiben, hatten nicht-jüdische Ehepartner oder Eltern.
Der deutsch-jüdische Journalist Karl Marx - nicht zu verwechseln mit dem berühmten Philosophen und Ökonomen - gehörte zu den ersten deutschen Juden, die ins Land zurückkehrten. Den Krieg hatte Marx im Exil verbracht. Doch seine Entscheidung zur Rückkehr lastete auf ihm. Später erinnerte er sich, wie er 1946 die Grenze zur britischen-besetzten Zone überquerte und sich selbst fragte: "Wie kann ich nur, nach allem was passiert ist, als Jude in Deutschland leben?"
Die Entscheidung Marxs und einiger tausend anderer Idealisten wurde sowohl innerhalb wie auch außerhalb der jüdischen Gemeinde von vielen in Frage gestellt. Der Jüdische Weltkongress trat im Juli 1948 erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen und gab eine deutliche Resolution heraus, in der er sprach von der "Entschlossenheit des jüdischen Volkes, sich nie wieder auf dem blutbefleckten Boden Deutschlands niederzulassen".
Die Gründe, warum sich trotz der Ablehnung der internationalen jüdischen Gemeinschaft, einige in Deutschland niederließen, waren vielfältig, sagt Anthony Kauders, Historiker an der britischen Keele Universität: "Manche hatten mit der Hilfe anderer Deutscher überlebt, und sie weigerten sich, alle Deutschen als gleichwertig schuldig anzusehen. Andere waren zu alt oder zu gebrechlich, um zu emigrieren."
Die Bemühungen, jüdische Gemeinden wiederaufzubauen, begannen unmittelbar nach Kriegsende. Bis 1948 gab es wieder mehr als 100 jüdische Gemeinden über ganz Deutschland verteilt. Sie bestanden aus zwei sehr unterschiedlichen Gruppen: Einerseits gab es die deutschen Juden und Jüdinnen, die meisten von ihnen vor dem Krieg hochgradig assimiliert und eingebunden in ihre deutsche Umgebung. Die andere Gruppe: Tausende vertriebene jüdische Flüchtlinge aus osteuropäischen Ländern, die sich unfreiwillig in Deutschland wiederfanden. Sie hatten große Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu sichern, da sie der deutschen Sprache kaum mächtig waren.
Über 90 Prozent der jüdischen Flüchtlinge, die nach Deutschland kamen, verließen das Land innerhalb der nächsten drei bis vier Jahre, überwiegend gingen sie in die USA oder in das neugegründete Israel. Nur etwa 15.000 blieben in Deutschland.
Viele der osteuropäischen Juden, die blieben, erhielten schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Sie waren neu im Land und stützten sich auf ihre Gemeinschaft, was ihre religiösen, kulturellen und sozialen Bedürfnisse betraf. "Sie führten ein sehr zurückgezogenes Leben", sagt Kauders. "In den 1950er und 60er Jahren kannte man als jüdisches Mitglied einer Gemeinde nur andere Juden, man kam nicht wirklich mit anderen zusammen."
Im Juli 1950 schlossen sich die verschiedenen Gemeinden zusammen und gründeten einen Dachverband, der sie vertrat: den Zentralrat der Juden in Deutschland.
Die Beharrlichkeit der deutsch-jüdischen Gemeinschaft führte zu einer pragmatischen Kooperation mit internationalen jüdischen Institutionen und schließlich dazu, dass der deutsche Zentralrat Vollmitglied des Jüdischen Weltkongresses wurde.
Unterdessen blieb der Antisemitismus in Deutschland ein Problem. Ein Bericht von 1946, der von der US-Armee in Umlauf gebracht wurde, fand heraus, dass 18 Prozent der Deutschen noch immer "radikale Antisemiten" waren, 21 Prozent Antisemiten und weitere 22 Prozent "moderate Rassisten". Eine Erhebung aus dem Jahr 1947 stellte fest, dass mehr als ein Drittel der Deutschen es befürworten würde, wenn es keine Juden in Deutschland gäbe.
Diese Atmosphäre veränderte sich, als die westdeutsche Regierung sich klar gegen Antisemitismus positionierte, sagt Historiker Kauders: "Zur Abwechslung kämpfte die Regierung offiziell dagegen und das macht natürlich den Unterschied. Das ist etwas, was [die Juden] in Deutschland oder den osteuropäischen Ländern, aus denen sie stammten, vorher nicht erlebt hatten. Das gab Juden in Deutschland ein Gefühl der Sicherheit."
Zwei deutsche Staaten waren aus den Trümmern des Dritten Reiches hervorgegangen: Die Deutsche Demokratische Republik (DDR), Teil des sowjetischen Ostblocks, und die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland (BRD).
Viele der politisch idealistischen und deutschstämmigen Juden zog es zu Beginn in den Osten des Landes, wo die bekannteren Juden in den Jahren nach dem Krieg lebten, wie die berühmte Schriftstellerin, Jüdin und Kommunistin Anna Seghers. "Niemand kam nach Ostdeutschland, um als Jude dort zu leben - sie wollten dort als Kommunisten leben", sagt die Soziologin und Autorin Irene Runge, die selbst 1949 als junges Mädchen mit ihren Eltern aus den USA nach Deutschland zog: "Sie unterdrückten alles Jüdische in sich."
Runge sagt, das sei bei vielen Juden in der ehemaligen DDR der Fall gewesen: "Ich denke, es war die einzige Art und Weise, dort zu leben. Man musste sich auf das politische Ziel fokussieren. Die Haltung war: 'Wir werden es nicht zulassen, dass die Deutschen alleine in diesem Land bleiben, wir werden es zu einem besseren Staat machen als je