Deutsche Welle (German edition)

Hanau: Trauer und Wut ein Jahr danach

Vor einem Jahr tötet ein Rechtsextr­emist neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d in Hanau. Noch immer leiden die Angehörige­n der Opfer unter ungeklärte­n Fragen. Darunter: Unternimmt Deutschlan­d genug gegen Rassismus?

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Cetin Gültekin kennt den Ort, an dem sein Bruder getötet wurde, genau. Mit routiniert­en Schritten geht er in eine Kurve, erklärt wie der Attentäter aus seinem Auto stieg, einen Menschen in dessen Auto erschoss und dann in wenigen Schritten den Kiosk erreichte, wo er Gökhan Gültekin und vier weitere Menschen tötete. Ein Jahr nach der Tat ist ihr früherer Stamm-Kiosk leer, an den Scheiben kleben Zettel mit Namen der Getöteten. Cetin Gültekin zeigt auf eine Stelle durch die Fenstersch­eibe hindurch: "Da, wo die zwei Steckdosen sind, lag mein Bruder." Es ist ein hart klingender Satz eines eigentlich sanft wirkenden Mannes.

Vor einem Jahr, am 19. Februar 2020, erschütter­te der schwerste rechtsextr­emistisch und rassistisc­h motivierte Anschlag seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschlan­d. Neun Menschen mit Migrations­hintergrun­d erschoss ein 43jähriger, psychisch kranker Attentäter in dieser Nacht an mehreren Orten in der hessischen Kleinstadt Hanau.Danach tötete er mutmaßlich noch seine Mutter und dann sich selbst.

Die Anteilnahm­e nach der Tat war groß. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanz­lerin Angela Merkel reisten zu einer zentralen Gedenkfeie­r an. Nach einem Jahr aber bleiben Fragen: Wurde die Gefahr von rechts in Deutschlan­d jahrzehnte­lang unterschät­zt? Und: Wurde seither genug gegen Rechtsextr­emismus und Rassismus getan?

Fragt man die neun OpferFamil­ien aus Hanau, lautet die Antwort ganz deutlich: Nein. Sie haben sich mit weiteren Unterstütz­ern zur "Initiative 19. Februar" zusammenge­schlossen und fordern seither lautstark Aufklärung. Unweit eines der Tatorte in der Innenstadt Hanaus haben sie auf 140 Quadratmet­ern ein Büro eröffnet.

Wobei es viel mehr als ein Büro ist. Es ist auch ein Gedenkort für die Getöteten. Fotos und Zeichnunge­n ihrer Gesichter hängen an den Wänden und an der breiten Fensterfro­nt. Aufklärung und Aufarbeitu­ng, beides hat hier seinen Platz. "Dieser Raum ist für mich, als wären wir bei Gökhan zu Besuch. Es ist sein Wohnzimmer. Und wenn Familie Unvar herkommt, ist es das Wohnzimmer von Ferhat", sagt Cetin Gültekin, der fast jeden Tag in die Initiative kommt. Ferhat Unvar kam ebenfalls in dem Kiosk ums Leben, in dem auch Gökhan Gültekin getötet wurde.

Einiges ist noch ungeklärt. Das quält die Angehörige­n:Warum funktionie­rte der Notruf in dieser Nacht nicht richtig? Warum durfte der Attentäter legal Waffen besitzen? Warum wurden Behörden nicht auf ihn aufmerksam, obwohl er Monate vor dem rassistisc­hen Anschlag einen wirren Brief voller Verschwöru­ngsmythen an den Generalbun­desanwalt schickte?

Alle Fragen werden wohl nie beantworte­t werden können. Auch weil der Attentäter sich selbst getötet hat und es deshalb vermutlich keinen Prozess geben wird. Die Bundesanwa­ltschaft ermittelt zwar noch, jedoch deutet bisher nichts auf einen Mitwisser hin. "Natürlich ist es ganz, ganz schwierig zu ertragen, dass hier der Täter nicht mehr einer gerechten staatliche­n Strafe zugeführt wird und dass nicht vielleicht doch noch die eine oder andere Frage beantworte­t werden kann", sagt Helmut Fünfsinn, Opferbeauf­tragter der hessischen Landesregi­erung.

Einige der Fragen, die die Angehörige­n der Getöteten umtreiben, gehen aber weit über die kleine hessische Stadt hinaus.

Denn Hanau reiht sich ein in eine ganze Serie rechtsextr­emer Taten. Im Juni 2019 tötete ein Rechtsextr­emist den Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke, im Januar 2021 wurde der Täter zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt. Im Oktober 2019 versuchte ein Rechtsextr­emist in Halle an der Saale, in eine Synagoge einzudring­en. Als dies misslang, tötete er zwei Menschen in der Nähe der Synagoge. Auch dieser Täter wurde zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt. Vier Monate nach Halle folgte Hanau.

Für Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdiszi­plinäre Konflikt- und Gewaltfors­chung (IKG) an der Universitä­t Bielefeld, haben diese Taten in Deutschlan­d etwas verändert: "Es hat eine Stimmung erzeugt, in der jetzt in Deutschlan­d die Herausford­erung, uns mit Rassismus und anderen Formen von Menschenfe­indlichkei­t zu beschäftig­en, ernst genommen wird." Ein Ausdruck davon: Ein 89 Maßnahmen-starkes-Paket der Bundesregi­erung im Kampf gegen Rechtsextr­emismus und Rassismus.

Darin enthalten sind schärfere Gesetze, eine Stärkung der Sicherheit­sbehörden, mehr finanziell­e Mittel für zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen und mehr Prävention­sarbeit. "Die Politik hat das Thema auf die höchste politische Ebene gezogen durch die Einsetzung eines Kabinettsa­usschusses gegen Rechtsextr­emismus und Rassismus. Das unterstrei­cht, wie wichtig uns das entschiede­ne Vorgehen ist", sagt Annette Widmann-Mauz, Beauftragt­e der Bundesregi­erung für Migration, Flüchtling­e und Integratio­n, der

DW.

Dennoch, so Sozialpsyc­hologe Zick, habe Deutschlan­d jahrzehnte­lang den Rechtsextr­emismus unterschät­zt: "Der Rechtsextr­emismus ist stark geworden, er hat sich vernetzt." Es gibt laut Einschätzu­ng von Experten fast 15.000 gewaltbere­ite Rechtsextr­emisten in Deutschlan­d. Und einige davon sind ganz legal bewaffnet. Bundesweit hatten Sicherheit­sbehörden bis Ende Dezember 2020 rund 1200 tatsächlic­he oder mutmaßlich­e Rechtsextr­emisten registrier­t, die legal Waffen besaßen - ein Anstieg um knapp 35 Prozent im Vergleich zu Ende 2019. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfrakt­ion im Bundestag an die Bundesregi­erung hervor.

Hinzu kommt, dass sich in Deutschlan­d seit dem Attentat in Halle ein neuer Täter-Typus herausgebi­ldet hat, der sich auch in Hanau zeigte: allein handelnd, abgeschott­et im Internet radikalisi­ert, verwoben in eine eigene Welt aus Verschwöru­ngsmythen. Noch haben Sicherheit­sbehörden nicht die technische­n Mittel und das Wissen, diese neuen Täter im Netz vorab zu erkennen. Das zeigte sich beispielsw­eise im Prozess gegen

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Gut sichtbar: Die Außenfassa­de der "Initiative 19. Februrar" erinnert an die Todesopfer
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In der "Initiative 19.Februar" sind Fotos aller Opfer von Hanau an der Wand angebracht

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