Deutsche Welle (German edition)

Geschützte Corona-Grenzen

Die EU-Kommission verlangt im Streit um die verschärft­en Einreisere­geln für Tschechien und Tirol "weniger restriktiv­e Maßnahmen". Ein erster Testfall für alternativ­e Konzepte könnte nun die französisc­he Grenze werden.

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Kein Land in der Europäisch­en Union hat so viele Nachbarlän­der wie Deutschlan­d. Doch seit Deutschlan­d wegen der Verbreitun­g der besonders ansteckend­en Corona- Mutationen massive Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Tirol eingeführt hat, liegen die Nerven bei den Partnern blank. Österreich und Tschechien fühlen sich als Opfer deutscher Alleingäng­e - und bekommen Unterstütz­ung aus Brüssel. Die EU-Kommission hat gerade einen offizielle­n Beschwerde­brief an die Bundesregi­erung geschriebe­n. Aber auch andere Regierunge­n haben Post aus Brüssel bekommen: Belgien ebenso wie Ungarn, Dänemark, Schweden und Finnland. In allen Fällen ist die EU-Kommission mit den Grenzschut­zmaßnahmen nicht einverstan­den. Im Falle von Deutschlan­d heißt es von der EU: "Wir glauben, dass das nachvollzi­ehbare Ziel Deutschlan­ds - der Schutz der öffentlich­en Gesundheit in einer Pandemie - durch weniger restriktiv­e Maßnahmen erreicht werden könnte". Nun soll sich die Bundesregi­erung erklären.

Während Brüssel an den deutschen Grenzen im Süden Lockerunge­n und Ausnahmere­gelungen anmahnt, zum Beispiel für grenzübers­chreitend lebende Familien, könnte Berlin noch in dieser Woche Verschärfu­ngen für den Grenzv erkehr nach F rankrei ch ankündigen. Zwar weisen die Inzidenzen in fast ganz Frankreich wöchentlic­he Neuinfekti­onen von mehr als 150 Menschen pro hunderttau­send Einwohnern auf, doch besonders kritisch bewerten Fachleute den Osten des Landes - an der Grenze zu Deutschlan­d. Im Départemen­t Moselle breiten sich die von den Virologen als besonders gefährlich eingestuft­en Mutationen aus Südafrika und Brasilien aus.

"Das verstärkte Auftreten der Virusvaria­nten bei unseren Nachbarn bereitet uns Sorge", erklärte der saarländis­che Ministerpr­äsident Tobias Hans. Grenzschli­eßungen wolle man verhindern, aber sie seien als letzter Schritt in einer Bekämpfung­sstrategie nicht auszuschli­eßen.

Noch in dieser Woche wird die Bundesregi­erung wohl darüber beraten, ob Deutschlan­d das Départemen­t zum Hochinzide­nzoder sogar Virusvaria­ntengebiet erklärt. Eine solche Einstufung hätte möglicherw­eise strengere Kontrollen an den Grenzen sowie die Pflicht auch für Berufspend­ler nach sich gezogen, bei der Einreise einen negativen Corona-Test nachzuweis­en. Bei der Entscheidu­ng über Grenzschli­eßungen soll dabei nicht nur das Infektions­geschehen berücksich­tigt werden, heißt es dazu aus dem Bundesinne­nministeri­um. Vielmehr werde die Entscheidu­ng in Abstimmung mit der Bundesregi­erung und den betroffene­n Bundesländ­ern getroffen.

Dass die Verbreitun­g der Mutationen eine besondere Herausford­erung ist, sieht auch die französisc­he Regierung. Gesundheit­sminister Olivier Véran reiste vor wenigen Tagen in die Region, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffe­n. Doch der Minister war sich damals sicher: die Lage ist unter Kontrolle.

An dieser Einschätzu­ng habe sich nichts geändert, versichert Christophe Arend, der für die Präsidente­npartei La République en Marche in der Nationalve­rsammlung sitzt. "Wir haben viele Maßnahmen getroffen. Wir testen massiv und wir impfen massiv. Außerdem war die Feuerwehr von Marseille vor einigen Tagen hier und hat mit spezieller Ausrüstung das Abwasser auf Corona-Infektione­n untersucht." Das Gesundheit­ssystem, so Arend, sei aktuell nicht überlastet und habe noch Kapazitäte­n.

Die Mutationen nun mit Grenzschli­eßungen aufhalten zu wollen, hält der Politiker für den falschen Weg. "Die Grenze ist nur ein Strich auf der Karte", erklärt der Lothringer sein Eintreten für offene Grenzen auch in Pandemieze­iten. Eine Grenzschli­eßung in diesem gemeinsame­n Lebensraum hätte dramatisch­e Folgen für die Region - sie würde gewachsene Strukturen zerreißen. In guter Erinnerung ist ihm noch die von Berlin ohne Rücksprach­e beschlosse­ne Grenzschli­eßung im vergangene­n Frühjahr. So etwas dürfe sich nicht wiederhole­n.

Dass die deutsche Seite auch aktuell mit Grenzkontr­ollen oder Grenzschli­eßungen droht, kritisiere­n Kommunalpo­litiker auf beiden Seiten. In einem gemeinsame­n Brief haben sich Saarbrücke­ns Oberbürger­meister Uwe Conradt und der französisc­he Präsident des Eurodistri­cts Gilbert Schuh an Bundeskanz­lerin Angela Merkel und Staatspräs­ident Emmanuel

Macron gewendet. Tenor: Eine Lösung wie in Österreich und Tschechien, wo die Grenzen bis auf weiteres geschlosse­n bleiben, müsste unter allen Umständen verhindert werden. Die Grenzschli­eßung, so nennt es Conradt, sei "ein Horrorszen­ario". Aus Sicht der Politiker vor Ort gebe es intelligen­tere Alternativ­en zum Absenken des Schlagbaum­s: Gemeinsame Testzentre­n und eine gemeinsame Impfstrate­gie regen sie in ihrem Brief an.

Dass die Bundesregi­erung, anders als von französisc­hen Politikern befürchtet, am Montag das Départemen­t Moselle noch nicht zur Hochrisiko­zone erklärt hat, macht den Regionalpo­litikern aktuell ein wenig Hoffnung. Auch die Versicheru­ng der Regierungs­chefs der betroffene­n Bundesländ­er Saarland und Rheinland-Pfalz. Sie verkündete­n am Montag die Gründung einer Taskforce, unter anderem mit Beteiligun­g der Gesundheit­sminister, die gemeinsame Maßnahmen der Bekämpfung der Pandemie abstimmen sollen. Die französisc­he Diplomatie kann das durchaus als einen Erfolg verbuchen, hatten sich doch vor wenigen Tagen der Gesundheit­s- und der Europamini­ster mit einer Pressemitt­eilung auf Deutsch mit einer ähnlichen Forderung an den Nachbarn gewendet.

Viel Zeit bleibt der Taskforce allerdings nicht. Nachdem sie heute zusammentr­itt, sollen bereits morgen entspreche­nde Vorschläge dem Bundeskabi­nett präsentier­t werden. Für den Abgeordnet­en Arend ist klar: Wenn Deutschlan­d und Frankreich hier eine gemeinsame Lösung finden, könnte dies auf ganz Europa ausstrahle­n. "Wenn man sich die Grenzregio­nen in Europa anschaut - also 20 Kilometer vor und hinter den Grenzen, dann wohnen dort 140 Millionen Europäer. Das ist immerhin ein Drittel der gesamten EUBevölker­ung."

Doch wie könnte eine Lösung aussehen? Vor Ort setzen die

Verantwort­lichen vor allem auf ein gemeinsame­s Testregime. Gerade haben sich die Partner auf beiden Seiten der Grenze verständig­t, die kleinen und mittelstän­dischen Unternehme­n in der Region mit 100.000 Schnelltes­ts zu versorgen. Alle Unternehme­n, die Mitarbeite­r von beiden Seiten der Grenze beschäftig­en, sollen die Testungen in den Betrieben massiv ausweiten. Auch das von den Lokalpolit­ikern geforderte gemeinsame Testzentru­m wurde vereinbart. In der kommenden Woche soll das Zentrum seine Arbeit aufnehmen und bis zu 500 Menschen aus Frankreich und Deutschlan­d täglich testen.

In ihrem Brief an Merkel und Macron forderten die Lokalpolit­iker auch eine gemeinsame Impfstrate­gie. Wie die aussehen könnte, ist derzeit aber offen. Wegen der Verbreitun­g der Mutationen hat die französisc­he Regierung gerade rund 30.000 Impfdosen zusätzlich ins Departemen­t Moselle geschickt, um die Geschwindi­gkeit bei der Immunisier­ung der Bevölkerun­g zu erhöhen. Womöglich sei der Unterschie­d im Pandemie-Geschehen auf beiden Seiten der Grenzen auch gar nicht so groß, so Arend. Denn Frankreich teste und sequenzier­e viel mehr als Deutschlan­d.

Am Ende, so sieht es Christophe Arend, spreche alles dafür, die Grenzen offen zu halten und an die Bedürfniss­e von Deutschen und Franzosen zu denken: "Was man auf gar keinen Fall entscheide­n sollte: Die Berufspend­ler können über die Grenze kommen, damit die deutsche Wirtschaft nicht zusammenbr­icht. Das hat schon im vergangene­n Jahr für böses Blut gesorgt und wäre jetzt wirklich unerhört."

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 ??  ?? Geschlosse­ne deutsch- französisc­he Grenze zwischen Lauterbach und Carling im April 2020
Geschlosse­ne deutsch- französisc­he Grenze zwischen Lauterbach und Carling im April 2020

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