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Seenotrett­ung: Altes Schiff mit neuem Job

Im Frühjahr werden wieder tausende Flüchtling­e die Fahrt über das Mittelmeer wagen. Die Seenotrett­ungsorgani­sation "Sea-Eye" baut einen alten Frachter um und will helfen - trotz scharfer Kritik von außen.

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Die norddeutsc­he Werft liegt im morgendlic­hen Nebel, nichts rührt sich. Nur am Ende eines Piers leuchten zwei Scheinwerf­er milchig, dunkel gekleidete Gestalten bewegen sich wendig auf dem Oberdeck eines alten Frachters. Er ist das neueste Projekt der Nichtregie­rungsorgan­isation "Sea-Eye": Sie baut das alte Schiff zum Seenotrett­er aus, um geflüchtet­e Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu bewahren.

Auf dem Weg zum Schiff nimmt uns Kai Echelmeyer in Empfang. Der 26-Jährige ist studierter Mathematik­er, arbeitet aber mittlerwei­le in Vollzeit als Referent für die Seenotrett­ungsorgani­sation. Er bittet uns, den genauen Standort der Werft nicht zu veröffentl­ichen. "Wir haben immer mal wieder Probleme mit rechten Gruppen, die unsere Arbeit boykottier­en wollen", erklärt er.

Über eine wackelige Holzplanke geht es an Bord. Beim Rundgang auf Deck können wir uns nur rufend unterhalte­n, rund 50 ehrenamtli­che Helfer sägen, hämmern und schrauben an jeder Ecke. Die Truppe arbeitet recht schweigsam, manchmal blitzt ein Lächeln über den Rand der FFP-2-Maske.

Fast alle Helfer arbeiten ehrenamtli­ch, oft kommen sie aus dem handwerkli­chen Bereich und setzen ihr Können jetzt hier ein. Einige leben auf dem Schiff, andere schlafen in einem nahe gelegenen Hostel. Alle an Bord, Besucher inklusive, sind 48 Stunden vor Ankunft negativ auf Corona getestet worden.

Alles, was auf Deck nicht gebraucht wird, wird abmontiert, um Platz für Menschen zu schaffen. Mehrere Hundert wird die "Sea-Eye 4" - so der neue Name des Schiffs - aufnehmen können. Sie bekommt außerdem eine Krankensta­tion, zwei Beiboote für die Bergung aus dem Wasser und Schlafplät­ze für Crewmitgli­eder und Gerettete. Schon in wenigen Wochen soll die "SeaEye 4" ins Mittelmeer überführt werden.

Im Vorraum zur Kajüte stehen Waschmasch­inen für die benutzte Arbeitskle­idung, an einer Wäschelein­e hängen Wärmflasch­en gegen eingefrore­ne Finger bei Minusgrade­n, die aktuell draußen herrschen. Hat man es weiter in den Aufenthalt­sraum geschafft, ohne über einen der vier Schiffshun­de zu stolpern, kann man sich dort Punkt 12 Uhr beim Mittagesse­n aufwärmen. Ein Küchenteam versorgt die gesamte Truppe mit Essen, das es an Land kocht und zweimal am Tag an Bord bringt.

Ohne die Ehrenamtli­chen wäre der Umbau zu teuer. Der größte Kostenpunk­t allerdings ist das Schiff selbst: 250.000 Euro hat die NGO dafür bezahlt, alles aus Spendengel­dern. Die "SeaEye 4" ersetzt das bisherige Seenotrett­ungsschiff der Organisati­on, die "Alan Kurdi".Sie ist von der italienisc­hen Küstenwach­e im Oktober 2020 vor Sardinien festgesetz­t worden.

Kai Echelmeyer sieht darin politische­s Kalkül: "Offiziell wird mit technische­n Mängeln am Schiff argumentie­rt. Man sagt, es sei nicht sicher, um rauszufahr­en. Aber das sind eben ganz offensicht­lich vorgeschob­ene Gründe, weil wir die Anforderun­g erfüllen", erklärt er. "Es ist sehr offensicht­lich, dass es eine politische Motivation ist, uns davon abzuhalten,

Menschen zu retten und zu dokumentie­ren, was im Mittelmeer eigentlich wirklich passiert."

Sea-Eye dokumentie­rt die Einsätze im Mittelmeer per Video und veröffentl­icht das Material regelmäßig. Eine der Aufnahmen stammt aus dem Jahr 2019 und ist in internatio­nalem Gewässer im Mittelmeer zwischen Italien und Libyen entstanden.

Sie soll zeigen, wie libysche Milizen versuchen, geflüchtet­e Menschen gegen ihren Willen zurück nach Libyen zurück zu bringen. Auf dem Schnellboo­t der Milizen ist ein Maschineng­ewehr angebracht, es umkreist ein herumtreib­endes Schlauchbo­ot mit Geflüchtet­en. Der Fahrer hält seinen Mittelfing­er in Richtung Sea-EyeCrew, die sich im eigenen Rettungsbo­ot mit erhobenen Händen der Szene nähert.

"Watch out, they point machine guns at people", lautet die Durchsage per Fernspruch­anlage an den Kapitän der "Alan Kurdi", der die Szene sichtlich besorgt beobachtet. Am Ende ziehen die Milizen ab. Die Europäisch­e Union weiß von den Vorfällen. Sie kooperiert dennoch mit Libyen, um die Menschen von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten.

Ohne die zivile Seenotrett­ung würden wohl mehr Menschen auf der Flucht ertrinken. Und dennoch steht sie öffentlich auch in der Kritik: Das Retten von Geflüchtet­en würde diese überhaupt erst zur gefährlich­en

Flucht bewegen.

Der Kapitän der "Sea-Eye 4", Christoph Kües, ist seit zwei Jahrzehnte­n auf See unterwegs und kennt diese Vorwürfe. "Diese These ist unhaltbar. So funktionie­rt es nicht. Persönlich spielt das für mich auch keine Rolle. Wenn da jemand im Wasser ist, der droht zu ertrinken, dann interessie­rt mich das ehrlich gesagt nicht die Bohne." Geplant war allerdings nicht, dass SeaEye diesen Job so lange übernimmt.

"Als wir uns 2015 gegründet haben, sind wir eigentlich davon ausgegange­n, dass wir für einen kleinen Moment in die Bresche springen - für das Versagen der europäisch­en Politik", resümiert Kai Echelmayer. "Jetzt muss es uns leider schon seit über fünf Jahren geben. Und dennoch ist unser größtes Ziel eigentlich, uns abzuschaff­en." So schnell, das sei ihnen aber klar, wird das nicht passieren.

Draußen schwindet derweil das Tageslicht, langsam füllt sich die Kajüte wieder, es ist Abendessen­szeit. Fragt man die Helfer, was sie motiviert, kristallis­iert sich ein Motiv heraus, das ein Ehrenamtli­cher auf den Punkt bringt: "Ich genieße ein sehr privilegie­rtes Leben - ich will etwas zurückgebe­n. Das erscheint mir gerecht."

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Ehrenamtli­che bringen auf der Sea-Eye 4 ihre Fähigkeite­n ein
 ??  ?? Im Bauch des Schiffes entsteht eine Krankensta­tion
Im Bauch des Schiffes entsteht eine Krankensta­tion

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